Die Zeit der hundert Königreiche
Priesterin zu verpflichten, obwohl ich das Gebot der Keuschheit nicht zu befolgen brauche. Sie meinte, vielleicht würde ich eines Tages heiraten wollen.«
»Und du wünschest dir immer noch … die Liebe eines Mannes?«, fragte Carlina erschüttert. »Ich glaube, ich würde sterben … ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß mich jemals wieder ein Mann aus Wollust berühren wird oder auch aus Liebe …«
Melisandra streichelte sanft ihre Hand. »Das wird vorübergehen, Schwester. Es wird vorübergehen, wenn die Göttin es will. Es kann aber auch ihr Wille sein, daß du ihr von neuem in Keuschheit dienst, auf der Insel oder anderswo. Wir sind alle unter ihrem Mantel.« Sie hob den schwarzen Mantel hoch. »Soll ich ihn für dich reinigen lassen?«
Carlina flüsterte: »Ich bin nicht würdig, ihn zu tragen.«
»Still!« befahl Melisandra streng. »Du weißt, das stimmt nicht. Meinst du, sie weiß nicht, wie verzweifelt du dich verteidigt hast?«
Von neuem füllten sich Carlinas Augen mit Tränen. »Das ist es ja, wovor ich Angst habe. Ich hätte mich heftiger wehren können … ich hätte ihn zwingen können, mich zu töten ich wünschte, ich hätte es getan …«
»Schwester«, mahnte Melisandra sanft, »ich halte es für eine Blasphemie zu glauben, die Göttin habe weniger Verständnis als eine schwache Frau wie ich. Und wenn ich dich verstehen und dir deine Schwäche nachsehen kann, wird es die Dunkle Mutter gewiß nicht weniger tun.«
»Vielleicht bin ich zu lange auf der Heiligen Insel gewesen.« Carlinas Stimme zitterte. »Ich habe vergessen, wie es in der Welt zugeht. Ihr habt hier Krieg.«
»Habt Ihr miterlebt, wie Hali von Feuerbomben zerstört wurde und sie alle … starben?«
»Ja. Aber Mutter Ellinen befahl uns, es auszuschließen. Sie sagte, wir könnten ihnen nicht helfen, indem wir ihre Todespein teilten …«
»Das sagte mein Vater auch. Aber wir waren mit der Armee auf dem Marsch«, berichtete Melisandra.
»Die Mütter lehrten uns, wir dürften an der Kriegführung nicht teilnehmen. Wir hätten uns mit den ewigen Dingen, mit Geburt und Tod, zu befassen, und der Krieg sei Angelegenheit der Männer – Patriotismus und der Stolz der Männer, Throne und Erbfolge hätten nichts mit uns zu tun. Frauen hätten überhaupt nichts …«
Melisandra entschlüpfte ein derbes Wort. »Verzeih mir, Schwester. Aber ich habe an der Seite der Männer im Feld gekämpft, unbewaffnet bis auf einen Sternenstein und einen Dolch, der mir die Sicherheit gab, ich werde dem Feind niemals lebend in die Hände fallen. Und die Schwesternschaft vom Schwert kämpft mit ihren eigenen Waffen, obwohl sie wissen, daß die Folgen einer Niederlage für sie noch grausamer sind. Einige weibliche Kriegsgefangene erlitten dies Schicksal erst vor einigen Tagen nach der letzten Niederlage von Serrais.«
Carlina meinte schwach: »Die Priesterinnen Avarras werden ständig aufgefordert, ihre Insel zu verlassen und als Heilerinnen in der Welt zu wirken. Vielleicht sollten wir die Schwesternschaft bitten, uns zu beschützen. Wenigstens könnten wir ihnen nichts Böses dieser Art zufügen …« Sie schwieg einen Augenblick. »Vielleicht hat Mutter Ellinen unrecht, wenn sie sagt, wir dürften an den Kämpfen rings um uns keinen Anteil haben …«
»Ich bin nicht die Hüterin von irgendeines Menschen Gewissen«, verwahrte sich Melisandra. »Vielleicht haben wir Frauen unterschiedliche Aufgaben …«
Carlina fragte bitter: »Aber wo willst du einen Mann finden, der sie uns zugesteht?« Und dann schwiegen beide.
Weder Melisandra noch Carlina hatten eine Vorahnung von dem, was als nächstes geschah. Es gab einen schwachen, summenden Laut – darin stimmten alle Überlebenden überein. Einen Augenblick später erfolgte ein gewaltiges Krachen, ein tosender Lärm. Der Boden schwankte unter ihren Füßen, und unwillkürlich hielten sie sich aneinander fest. Der ersten Explosion folgten eine zweite und dritte.
»Erlend!« schrie Melisandra auf und rannte wild den Flur hinunter. Sie stolperte, als die Mauern unter einer vierten Explosion erbebten. »Erlend! Paolo!«
Paul rief Melisandras Namen und fing sie im Eingang zu ihren Räumen ab. Er packte sie und zog sie mit Gewalt unter einen der Türrahmen, wo er stand und sich auf eine weitere Explosion gefaßt machte. Melisandra klammerte sich an ihn, schwankte und suchte mit ihrem Geist nach den Gedanken ihres Sohns. Er war in Sicherheit! Dank sei allen Göttern, er war in den Ställen,
Weitere Kostenlose Bücher