Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Der eine redete irgendetwas, was ich nicht verstehen konnte, dann zog er einen Brief aus der Tasche.
»Was hat der denn da?«, fragte ich.
»Psst«, machte Sandra und drückte mir ihren Finger an den Mund.
Mein Vater, der inzwischen auch an die Haustür gekommen war, nahm den Brief entgegen, wechselte ein paar Worte mit den Herren – und umarmte spontan meine Mutter. Es musste eine gute Nachricht sein.
Papa riss den Umschlag auf und überflog die Zeilen. Sein Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig, dann hörten wir ihn fluchen und zogen instinktiv den Kopf ein.
Die Männer zuckten mit den Schultern, wünschten meinem Vater laut und deutlich »alles Gute«, zogen den Hut und verschwanden.
Papa ließ den Brief sinken, sah meine Mutter erst mit ausdruckslosem Gesicht an, dann stiegen ihm die Tränen in die Augen. Ich hatte ihn bis dahin noch nie weinen gesehen.
Was hatte das alles zu bedeuten?
Sandra und ich tapsten zögernd die Stufen hinunter.
Jetzt, Jahre später, halte ich jenen Brief in Händen. Das Schreiben zerstörte einen Traum, den viele DDR -Bürger damals geträumt haben. Es ging um eine Ausreisegenehmigung in den Westen. Aber im Unterschied zu anderen DDR -Bürgern wollte mein Vater nicht weg in das andere, vermeintlich bessere Deutschland, er wollte schlicht nach Hause. Mein Vater hatte sich jahrelang darum bemüht, zurück zu seiner Familie im Westen zu können, nun war seinem Wunsch stattgegeben worden. Mit dem zynischen Zusatz, dass man ihm und seiner Familie die Ausreise bewilligen würde, sofern er in der Lage sei, die bis dahin erhaltenen staatlichen Zuwendungen für seine fünf Kinder zurückzuzahlen. Außerdem sollte der gesamte Besitz der Familie mit dem Zeitpunkt der Ausreise an die Deutsche Demokratische Republik fallen.
Das war es dann auch schon gewesen. Nie hätte er diesen Forderungen nachkommen können.
Umsonst die Zeit, die er wegen eines Versuchs der Republikflucht abgesessen hatte, zweieinhalb Jahre wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Er hatte erfahren, dass seine Mutter schwer erkrankt war, wollte zu ihr, unbedingt, zurück in den Westen. An der Grenze hatten sie ihn erwischt. Wegen guter Führung kam er nach einem Jahr wieder raus. Danach sei er gebrochen gewesen, hörten wir manchmal, und habe unermüdlich darum gekämpft, diesem Land den Rücken kehren zu dürfen. Bis 1982, bis zu dem Tag, an dem jener Brief überbracht wurde.
Die Vorfälle, die das alles ausgelöst hatten, lagen lange zurück.
Mein Vater war gerade siebzehn Jahre alt gewesen, als die Stasi seine Mutter verhaftete. Sie stand angeblich unter Spionageverdacht. Ohne großes Aufhebens wurde sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion an die innerdeutsche Grenze verschleppt, mit der Aufforderung, nie wieder zurückzukehren. Die Sorge um ihren Sohn muss sie in den Jahren danach fast wahnsinnig gemacht haben.
Mein Vater Hans wurde 1944 in Wuppertal-Elberfeld in eine wohlhabende Familie hineingeboren. Die Eltern hatten jung geheiratet, eine eilige Kriegsheirat, er in Uniform, wie bei so vielen Paaren damals. Hans sah seinen Vater nur ein einziges Mal, im Alter von sechs Monaten; der Soldat auf Fronturlaub hielt in jenen Tagen zum ersten und zum letzten Mal seinen Sohn auf dem Arm. Er fiel wenige Wochen später. Meine Großmutter musste die schwere Zeit bis Kriegsende und danach, als alles in Trümmern lag, allein durchstehen.
Kurz nach dem Tod seines Vaters erkrankte Hans schwer, die Mutter war in heller Aufregung, da die Ärzte in Wuppertal kaum noch Hoffnung hatten. Nur der Aufenthalt in einem speziellen Sanatorium in Jena könne ihn möglicherweise retten. Meine Großmutter war bereit, nach jedem Strohhalm zu greifen, packte den Kleinen und machte sich auf eine abenteuerliche Fahrt in den Osten. In Jena bezog sie ein kleines Zimmer in einer Pension, tagsüber war sie bei meinem Vater in der Klinik. Ihre Kriegswitwenrente war bescheiden und reichte kaum zum Leben, geschweige denn für den teuren Sanatoriumsaufenthalt. Die Kosten für die Behandlung waren immens, ihre Rücklagen schmolzen. Ganze sechs Jahre lang wurde mein Vater in Jena behandelt.
Als klar war, dass der Aufenthalt länger dauern würde, löste meine Großmutter die Wohnung in Wuppertal auf und suchte sich in Jena ein neues Zuhause. Da sie dort später auch ihren zweiten Mann kennenlernte, entschied sie sich zu bleiben. Deutschland war noch nicht geteilt, niemand rechnete damit, dass das jemals geschehen könnte. 1961 kam die Mauer, der
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