Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
hält mich für eine Nutte. Ob sie Kinder hat? Eine Tochter, so alt wie ich?
»Du kannst dich wieder anziehen.«
Schweigend klaube ich meine Klamotten zusammen.
Draußen, zurück im Verhörzimmer, bringe ich keinen Ton heraus. Was hätte ich auch sagen sollen? Da werden noch andere Mädchen festgehalten, bitte helfen Sie uns? Sie würden mir ja doch nicht glauben. Ich kaue auf meinen Lippen herum und starre an die Wand. Ob Kugler schon mitbekommen hat, dass ich weg bin? Was war mit Lea? Rainer und Ludwig hatten sie sicher längst aufgegriffen und zurück ins Jasmin gebracht. Scheiße. Und ich war schuld, wenn Kugler sie jetzt durch die ganze Wohnung prügelte. Alles wegen den Bullen.
Ich hätte mich freuen sollen, raus zu sein, in Sicherheit. Die Polizei, dein Freund und Helfer. Vielleicht sollte ich doch reden. Sagen, was passiert ist, was da vor sich geht. Und dann? Wohin dann? Zurück nach Hause? Ich weiß nicht mehr, wohin ich gehöre. Aus der alten Welt gefallen, abgehauen, abgestempelt als Ausreißerin, als eine, die Schwierigkeiten macht. Eine, über die’s wahrscheinlich schon ’ne Akte gibt.
Ein Beamter betritt den Raum und legt ein Schreiben vor mir auf den Tisch. Eine Vermisstenanzeige, ein paar Wochen alt, geschaltet von meiner Mutter.
»Das hättest du uns doch sagen können! Eine kleine Ausreißerin also. Da werden deine Eltern aber froh sein, dass sie dich wiederhaben!«
Das werden sie, ganz sicher.
Ich besteige den Polizeiwagen, der mich nach Hause bringt. Bilder aus meiner Kindheit ziehen an mir vorbei. Meine Geschwister, der kleine Hof auf dem Dorf, die Schaukel im Garten. Die Mutter, lachend über uns, wenn wir mit einer Decke die gebohnerten Treppenstufen hinuntersausten. Bis ihr der Lärm zu viel wurde. Bis ihr alles zu viel wurde und sie uns betrunken anschrie, wir sollten ihr aus den Augen gehen. Meine Schwester ist auch immer wieder abgehauen. Die hatte mehr Glück als ich.
Aber jetzt wird alles gut werden. Sie haben dich vermisst, sie warten auf dich. Gleich, gleich sind wir da und dann ist alles wie früher, wie ganz früher, als der Vater noch lebte.
Die beiden Beamten gehen vor mir die Treppe hinauf. Sie klingeln, man hört Schritte näher kommen.
»Ja, bitte?«
»Wir haben hier Ihre Tochter …«
Unsicher luge ich hinter den Polizisten hervor. Unsere Blicke treffen sich, die Augen meiner Mutter sind weit aufgerissen.
Als die Tür hinter mir ins Schloss fällt, schreit sie mich an: »Wie siehst du denn aus? Siehst ja aus wie eine Hure! Hast es also schon nötig, auf den Strich zu gehen!«
In diesem Moment geht etwas in mir kaputt. Ich fühle mich klein, erniedrigt und schmutzig.
»Natürlich! Sieht man doch, dass ich auf den Strich gehe, oder?«
Ich weiß selbst nicht, warum ich in diesem Moment so reagiere. Ich bin so verletzt und enttäuscht, dass ihr nichts anderes eingefallen ist als dieser eine Satz. Da ist nicht die Mutter, die froh ist, die verlorene Tochter endlich wieder in den Arm nehmen zu können, die besorgt fragt: Kind, was ist dir geschehen? Was haben sie dir angetan? Da sind nur Kälte und Schweigen. Und dieser Blick: Sieh dich doch an, du bist Sünde. Gott wird dich strafen dafür, dass du deinen Körper verkaufst.
Ohne ein weiteres Wort gehe ich an ihr vorbei in den Flur.
Am Abend sitze ich gemeinsam mit meinem Stiefvater im Wohnzimmer. Ich fühle mich fremd und verloren. Jakob fragt mich immer wieder, was passiert sei: »Was ist los, Mandy, rede doch mit mir!« Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Die Tränen laufen mir über die Wangen, aber ich bleibe stumm. Aus Angst und aus Scham über das, was ich getan habe. Als hätte ich diese Entscheidung selbst getroffen.
Männer, auf mir liegend, ihre Finger überall, ihr Atem in meinem Gesicht. Eins, zwei, drei … Ausblenden, abspalten, lächeln. Du bist toll, ja, du bist der Größte. Mein Blick krallt sich an die beiden Fächer hinter mir an der Wand. Einer orange, einer grün, Sonnenuntergang und Wälder. Neben mir auf dem Nachttisch Stofftiere, bunt und grell und süß mit ihren Kulleraugen. Auf der anderen Seite die Ablage mit den Kondomen und der Gleitcreme. Großpackung. Und jetzt sitze ich hier vor der Schrankwand auf dem Sofa und soll davon erzählen? Ich muss hier raus, ich halte das nicht aus. Nicht seinen Blick, nicht seine Anwesenheit. Obwohl er mir nichts Böses will, mir vielleicht wirklich nur helfen möchte.
»Ich bin müde, ich gehe jetzt ins Bett.« Jakob nickt nur und sagt
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