Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Prolog
Hoffnung und Glaube ließen mich versteinert stehen
Die Angst und Sicherheit, sie mit mir untergehen
Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier draußen stand. Irgendwann spürt man die Kälte nicht mehr, man spürt gar nichts mehr, alles ist klamm. Die Geräusche um einen herum verschwimmen, das Rattern der Straßenbahn vermischt sich mit dem Rauschen vorbeifahrender Autos. White noise, wie früher beim Testbild im Fernsehen. Die meisten, die hier durchfahren, nehmen für einen Moment den Fuß vom Gas. Damit sie besser glotzen können durch die Scheiben ihrer spießigen Familienkutschen. Heute brausen sie weiter, kein Wetter für eine schnelle Nummer.
Schneematsch spritzt gegen meine Stiefel.
Du Idiot!
Ich starre dem Wagen hinterher, froh, dass er nicht gehalten hat. Ich bücke mich, um mit dem Ärmel meiner Jacke über das Leder zu wischen. Mist. Die Salzränder fressen sich langsam nach oben.
Mit klammen Fingern fische ich nach einer Zigarette. »Keine Kippen im Job«, sagt Kugler immer, »sonst stinkst du aus dem Hals, und das mögen die Kunden nicht.«
Sollen seine Aufpasser doch petzen. Meine Finger ratschen mehrmals über das Feuerzeug, bis die Flamme endlich brennt.
Seht ihr? Ich rauche! Und ihr könnt nichts dagegen tun.
Da drüben sitzen sie in ihrem dunklen Wagen, lassen uns nicht aus den Augen. Mich nicht und Lea auch nicht. Demonstrativ blicke ich zu ihnen hinüber, stoße den Rauch in die kalte Luft. Beinahe muss ich husten.
Als ich mich abwende, sehe ich, dass sich der Wagen langsam in Bewegung setzt. Feierabend wegen des schlechten Wetters? Na, wenigstens was.
Ich trete die Kippe aus und warte darauf, dass sie wenden, um mich und Lea einzuladen. Ludwig stoppt, er stößt die Beifahrertür auf und herrscht mich an: »Los, steig ein, mach schon.«
Was soll die Eile? Lea, die gut zwanzig Meter von mir entfernt an der Backsteinmauer unter der alten Eisenbahnbrücke lehnt, gestikuliert in meine Richtung.
Was macht sie denn da? Und wieso dreht sie sich jetzt um und geht?
»Mandy, verdammt noch mal, steig jetzt ein!« Der Motor heult auf. Ich habe den Türgriff schon fast in der Hand, als ich das Polizeiauto sehe.
In meinem Kopf wirbelt alles durcheinander. Polizei. Rettung. Befreiung. Endlich.
Wie angewurzelt bleibe ich stehen, lasse meine Hand sinken.
»Scheiße, du dumme Kuh!« Ludwig gibt Gas, ich sehe, wie er Lea einlädt und dann davonbraust.
Ich kann mich immer noch nicht rühren, mein Herz rast, ich starre auf den Streifenwagen, der vor mir hält.
»Na, Kleine? Wie alt sind wir denn? Zeig uns mal deinen Ausweis.«
»Wird’s bald?«
Dieser Ton. Herablassend. Demütigend. Passend für eine, die aussieht wie eine Nutte, mit der entsprechenden Kleidung an und am entsprechenden Bordstein stehend.
Babystrich. Lütznerstraße in Leipzig, gleich unter der alten Brücke mit ihren mattgrünen Schrauben und Muttern.
Die müssen doch sehen, dass ich hier nicht freiwillig stehe.
Und was, wenn nicht?
Ich muss daran denken, dass Kugler immer damit prahlt, beste Beziehungen zu haben. Nach ganz oben.
Die werden mich hier nicht rausholen. Die wollen mir gar nicht helfen, sondern sich nur einen Spaß mit mir machen.
»Ich kann mich nicht ausweisen«, höre ich mich sagen. Wie sollte ich auch. Niemand von uns hat Papiere. Wer welche dabeihatte, musste sie an Kugler abgeben. »Ihr gehört jetzt mir«, hat er gesagt.
Die Polizisten fordern mich auf mitzukommen. »Auf der Wache werden wir schon herausfinden, wer du bist.«
Ich habe plötzlich Angst. Warum bloß war ich nicht in Ludwigs Wagen eingestiegen? Dumm und naiv.
Auf der Polizeistation muss ich meine Taschen leeren. Eine zerknautschte Packung Zigaretten, ein Feuerzeug, Kondome. Vielsagende Blicke, wissendes Grinsen unter den Kollegen. Ich recke trotzig das Kinn nach vorne. Mir doch egal, was ihr denkt.
»Und jetzt noch die Stiefel ausziehen.«
Wenn ich mich bücke, werden sie sehen, dass ich unter dem Rock nichts anhabe. Mit zitternden Fingern nestele ich am Reißverschluss herum.
»Geht das auch etwas schneller?«
Wortlos lege ich die Stiefel auf den Schreibtisch und sehe den Beamten an.
Was soll das werden? Sieht der Typ nicht, wie alt ich bin?
Eine Beamtin betritt den Raum, fordert mich auf, ihr zu folgen. Zur Leibesvisitation. Nackt und mit gespreizten Beinen stehe ich in einem eiskalten Raum, während sie mich gründlich inspiziert. Zähl einfach, so wie immer, dann geht auch das vorbei. Eins, zwei, drei … Auch sie
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