Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Malen, was ich bis heute sehr gerne tue, war ich damals definitiv zu klein.
Vom Zentrum zogen wir ein paar Kilometer hinaus ins Grüne, nach Lausen, einen kleinen Ort westlich von Leipzig, der 1995 eingemeindet wurde. Ende der Siebziger entstand auf einer Fläche des Gemeindegebiets ein Teil der Neubausiedlung Grünau, einer der größten Plattenbaukomplexe der DDR .
Über die Gemeinde, die für meine Eltern nach Matthias’ Tod immer wichtiger wurde, bekamen sie ein Haus angeboten, das sie kaufen konnten. Auch einen Job vermittelten die Schwestern und Brüder im Glauben, bei einer LPG am Ort.
Den größten Teil meiner Kindheit verbrachte ich also in einer ländlichen Gegend – mit allen positiven Aspekten, wenn man klein ist, und all den negativen, wenn man in die Pubertät kommt. Das Haus, das wir bezogen, war weniger weitläufig als die Wohnung in Leipzig. Die Decken waren niedriger, die Zimmer kleiner. Die Kinder wurden nach Geschlechtern aufgeteilt: Es gab ein Jungenzimmer und eins für die drei Mädchen. Von der Stube im Erdgeschoss führte eine dunkle Holztreppe nach oben, jene Stiege, die regelmäßig gebohnert wurde und auf der man so gut nach unten rutschen konnte. Ans Haus angrenzend war ein kleiner Stall, in dem ein paar Tiere »für den Hausgebrauch« untergebracht waren. Zwei Schweine, zwei Kühe, zwei Ziegen, etwas Federvieh. Wenn geschlachtet wurde, versteckte ich mich im hintersten Eck des Gartens. Und abends brachte ich keinen Bissen herunter, egal, ob von der Wurstsuppe oder dem Kesselfleisch. Sandra und ich hockten mit verschränkten Armen vor den Tellern und warfen den Erwachsenen böse Blicke zu. An normalen Tagen hingegen drückte ich mich gerne im Stall oder in der angrenzenden Scheune herum; ich mochte die Wärme, außerdem tummelten sich dort immer die Katzen im Heu.
Zwischen Stall und Haupthaus war die Waschküche untergebracht, in der wir jeden Freitag in eine große Zinkwanne gesteckt wurden; ein Badezimmer wurde erst später eingebaut. Bis Sandra und ich an der Reihe waren, war das Wasser meist nur noch lauwarm. Den Letzten beißen die Hunde, aber der Letzte hatte auch den größten Spaß. Nach dem Ausgießen des Wassers war der Betonboden rund um den Abfluss mit einem seifigen Film überzogen; eine perfekte Rutschbahn, auf der man von Wand zu Wand sausen konnte, sofern man vorher den Abfluss mit einem Fetzen zugestopft hatte.
Für mich endete diese eher unbeschwerte Zeit, in der kein Obstbaum vor mir sicher war, mit dem Tag, in dem ich in den Kindergarten kam. Ich wurde gehänselt, weil ich mich manchmal während des Mittagsschlafs einnässte, und traute mich kaum noch auf die Liege im Schlafsaal. Wenn ich mich weigerte, schimpften die Kindergärtnerinnen, die anderen feixten. Wenn ich dann aufstand mit einem Fleck auf der Hose oder dem Rock, wurde ich vor allen anderen bloßgestellt. Mit der Zeit wurde ich schon beim Mittagessen so panisch, dass ich anfing zu heulen. Was die Sache nicht besser machte. »Die Mandy wieder, guckt mal, die Heulsuse!«
Endgültig zum Außenseiter wurde ich, als wir eines Tages ein Bild malen sollten. Die Kindergärtnerinnen verteilten Papier und Stifte, und ich war froh, dass ich endlich einmal zeigen konnte, was in mir steckte. Malen, das mochte ich, und das konnte ich. Bis sie mir den Stift aus der Hand rissen. »Man malt nicht mit links! Weißt du das denn nicht? Schau doch mal zu den anderen, die machen es richtig!« Mit der rechten Hand war ich motorisch so ungeschickt, dass ich kaum den Stift halten, geschweige denn, etwas zu Papier bringen konnte. Ein Linkshänder, das war damals gleichbedeutend mit »nicht ganz richtig im Kopf«, irgendwie verkehrt rum, etwas, das mir »ausgetrieben« werden musste. Wieder ein Anlass, mich zu hänseln. Ich war jeden Tag froh, wenn mich jemand – meist eines meiner älteren Geschwister – abholte. Kaum etwas war schlimmer, als wenn ich das letzte Kind war.
Dann dachte ich jedes Mal, meine Eltern hätten mich vergessen. Wenn mein Vater mich abholte, stürzte ich mich regelrecht auf ihn und wollte hochgehoben werden. Endlich wieder in Sicherheit.
Mein Unbehagen legte sich nicht, auch nicht die Hänseleien, als ich eingeschult wurde. Mandy, der Strohkopf, mit den spillerigen Haaren.
1983 zogen wir von Lausen nach Rathendorf, ein Ort, ebenfalls auf dem platten Land. Der Einzige, der nicht mitkam, war mein ältester Bruder Marco, der in Leipzig eine Lehre in einer Gießerei angefangen hatte. Wieder mit Hilfe
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