Die Zeit, die Zeit (German Edition)
1
Etwas war anders, aber er wusste nicht, was.
Peter Taler stand am Fenster und hielt die Bierflasche mit zwei Fingern am Hals, damit seine Hand ihren Inhalt nicht wärmte. Als hätte er seinem Feierabendbier jemals genügend Zeit gelassen, warm zu werden.
Ein grauer Nissan fuhr vor und parkte auf einem der vier Parkplätze vor dem Haus. Zwischen Talers Citroën und dem Lancia der neuen Mieter, deren Namen er noch nicht kannte. Keller stieg aus, nahm sein Jackett vom Rücksitz, zog es an, ergriff seine Mappe, verriegelte den Wagen mit der Fernbedienung seines Autoschlüssels und ging zum Briefkasten. Er hob die Klappe, versicherte sich, dass seine Frau ihn schon geleert hatte, und ging auf die Haustür zu.
Taler trank einen Schluck. Von allen Getränken, die er kannte, war ihm eiskaltes Bier das liebste. Die Art, wie es sich im Mund anfühlte und wie es die Kehle hinunterlief, der Geschmack, den es zurückließ, die Behutsamkeit, mit der es seine Wirkung entfaltete – alles konkurrenzlos wunderbar. Nur den Geruch mochte er nicht. Deshalb trank er es aus der Flasche. Je enger das Gefäß, fand er, desto diskreter die Geruchsentfaltung.
Der letzte der vier Parkplätze, von denen jeder ein Schild mit der Autonummer des legitimen Benutzers trug, war noch frei. Er gehörte Frau Feldter, deren Parkplatzbelegung so unberechenbar war wie ihr Arbeitsrhythmus. Manchmal war der Platz tagelang frei, manchmal wochenlang besetzt, manchmal stand ihr türkisblauer Fiat 500 den ganzen Tag über dort und manchmal, ganz bürgerlich, nur in der Nacht. Frau Feldter war Flugbegleiterin. Sie befand sich jetzt irgendwo in der Luft oder an einer ihrer Destinationen. Ihr Wagen stand wohl auf dem Personalparkplatz des Flughafens. Alles ging seinen gewohnten Gang.
Und doch war etwas anders.
Auf dem Weg in die Küche trank er die Flasche aus, stellte sie in die Tüte für Altglas, holte eine neue aus dem Kühlschrank und postierte sich wieder am Fenster.
Etwas war anders.
Er kannte diesen Ausschnitt der Welt sehr genau. Wenn er sich ganz nahe ans Fenster stellte, sah er links etwa hundertzwanzig Meter bis zu einer Kurve, aus der der Gustav-Rautner-Weg hervorkam. Rechts reichte der Blick nur etwa halb so weit bis dorthin, wo dieser in einer zweiten Kurve wieder verschwand.
Die gegenüberliegende Seite der schmalen Teerstraße war gesäumt von immer wieder renovierten und umgebauten Einfamilienhäusern aus den fünfziger Jahren mit kleinen Gärten, von denen die meisten zu pflegeleichten Sitzplätzen umfunktioniert worden waren, mit mehr Betonplatten als Rasen.
Auf seiner Seite der Straße standen in zwei Reihen dreistöckige Wohnblocks, wie sie in den sechziger Jahren modern gewesen waren: die Seitenfassaden mit Waschbetonplatten verkleidet, die Fronten aus beigem Verputz. Die Häuser waren leicht versetzt, damit wenigstens ein paar der Wohnungen in der zweiten Reihe einen unverbauten Blick auf den Gustav-Rautner-Weg genießen konnten. In der ersten Reihe, Nummer vierzig, zweiter Stock, wohnte Peter Taler.
Die meiste Zeit, in der er zu Hause war, verbrachte er wie jetzt an diesem Fenster mit dem breiten Holzsims voller Wasserflecken der Vormieter, die dieses, wie vom Architekten vorgesehen, als Blumenfenster benutzt hatten.
Peter Taler schloss die Augen und rief das Bild ab, das er sich von dieser Aussicht eingeprägt hatte: Gleich nach der linken Kurve die Nummer dreiunddreißig, frischgetüncht in gebrochenem Weiß mit einem Fertigbauwintergarten und sechs Sonnenkollektoren auf dem Giebeldach. Die Bewohner waren ein kinderloses Paar in mittleren Jahren.
Beim Nachbarhaus, Gustav-Rautner-Weg fünfunddreißig, war das ursprüngliche Aussehen des Hauses kaum mehr zu erkennen. Sein Dachboden war ausgebaut und mit großen Fenstern versehen. Mit einem gerüstartigen Vorbau hatte man zwei Balkons angefügt, fast die Hälfte des Gartens war einer Garage geopfert worden, die andere platzte aus allen Nähten: Ein gemauerter Grill mit Rauchabzug, ein Granittisch mit sechs Rattanstühlen, eine Hollywoodschaukel und ein oberirdischer Pool machten sich den Platz streitig. Im Sommer verbrachte die lärmige vierköpfige Familie die schönen Wochenenden und Abende im Freien. Und ab November verwandelte sie Haus und Garten in ein festlich blinkendes Lichtermeer.
Daneben die kinderfreundliche Siebenunddreißig mit Rutschbahn, Schaukel und Klettergestell. Alles verlassen und verwittert wie die Graffiti, die die Kinder auf die Fassade hatten
Weitere Kostenlose Bücher