Mindhunter - Tödliche Gabe (German Edition)
1
Der Mann hatte seine eigene Familie als Geiseln genommen.
Mac Mackenzie konnte die Angst der Frau und der drei Kinder des Jokers spüren und hörte ihr Weinen, während sie rasch die Hausseite erklomm, bis hinauf zum Dach. Ihr Ziel war ein kleines Fenster im zweiten Stock, an der Rückseite des Hauses, das einen Spaltbreit offen stand.
Die ruhige Stimme von Stephen Diaz, der mit dem Teamleiter, Dr. Joseph Bach, unten wartete, ertönte in ihrem Funkkopfhörer. »Bereit, wenn du es bist.« Zwischen den Zeilen hörte sie heraus: Die Zeit läuft, dumme Zicke. Wir warten nur auf dich … Na ja. Das mit der dummen Zicke war ihre eigene Ausschmückung. In den ganzen zwölf Jahren, seit Mac Diaz kannte, war er ihr stets mit Respekt begegnet. Selbst in jener Nacht – vor sehr langer Zeit –, als sie sich nackt in sein Bett gepflanzt und sie so beide in eine peinliche Situation gebracht hatte.
Hier und jetzt hielt Mac sich nicht damit auf, ihm zu antworten, sondern überquerte rasch und lautlos das vom Regen glitschige Dach, das mit echtem Schiefer gedeckt war. Keine Frage, wer in diesen harten Zeiten einen Haufen Kohle für sein Scheißdach ausgeben konnte, hatte zu viel Geld. Und wohl auch genug Geld, um teure illegale Drogen zu kaufen – insbesondere solche, die dem Konsumenten ein ewiges Leben versprachen.
Klar, das Versprechen, niemals zu sterben und für immer wie zwanzig auszusehen, mit dem die Droge Oxyclepta-di-estraphen – allgemein bekannt unter dem Namen Destiny – lockte, konnten die wenigsten ausschlagen. Schon gar nicht diejenigen, die schon alle Autos, Traumhäuser und Schuhe hatten, die sie von ihren Milliarden kaufen konnten.
Dabei waren die Süchtigen, gegen die sie, Bach und Diaz im Einsatz waren, nicht immer extrem reich. Manche von ihnen hingen schon so lang an der Nadel, dass sie bereits alles verkauft hatten, was in ihrem Leben irgendwie von Wert gewesen war. Häuser, Autos, exotische Haustiere. Jachten, Schmuck, Designerklamotten – und nichts davon war in dieser beschissenen Wirtschaftslage mehr wert als einen winzigen Bruchteil dessen, was es ursprünglich gekostet hatte.
Außer ihren Waffen.
In diesen Tagen war eine Smith & Wesson oder eine SIG Sauer – selbst in miserablem Zustand – den meisten Menschen mehr wert als ein BMW. Zumal die Benzinpreise ins Unermessliche schossen.
Aber früher oder später verkauften die Süchtigen sogar Pistolen und Munition, und der Erlös floss direkt in ihre Venen. Dabei sahen sie immerhin verdammt gut aus, denn Destiny verlieh ihnen Jugend und Gesundheit, solange man die Augen vor der heftigen Abhängigkeit verschließen konnte. Und das blendende Aussehen bewahrte sie auch nicht vor versehentlicher Überdosierung, oder noch schlimmer: davor, den Joker-Punkt zu erreichen und völlig durchzudrehen.
Manche Konsumenten machten früher den Joker als andere – zum Beispiel der heutige Geiselnehmer, der offensichtlich noch genug Geld besaß, um seine zweistöckige Villa zu heizen und Licht brennen zu lassen, hier im stinkreichsten Teil von einem von Bostons wenigen verbliebenen piekfeinen Vororten.
»Okay, ich bin endlich da«, hauchte Mac in ihr Lippenmikrofon. Ihr war klar, dass alles, was sie zu Diaz sagte, auch Dr. Bach hören konnte, obwohl der Einsatzleiter kein Headset trug. Sie senkte den Kopf über die Dachkante und lugte in das leicht geöffnete Fenster hinein. Wie sie vermutet hatten, gehörte es zu einem kleinen Badezimmer. Der Rollladen war oben, und das hereinfallende Licht stammte von einer extravaganten Deckenlampe im Flur des zweiten Stockwerks. Sie griff nach dem Fliegengitter und löste es aus seinem Rahmen. »Status?«
»Alle Bewohner befinden sich noch immer im ersten Stock«, teilte Diaz ihr mit. »Im Schlafzimmer. Dr. Bach meint, unser Mann setzt sich gerade wieder einen Schuss. Was empfängst du? Aber bitte, tu’s nicht, wenn du die Angst nicht abblocken kannst.«
Die Angst und Verwirrung der Familie waren unausweichlich. Und da es sich um vier Personen handelte, waren diese Gefühle eine starke Macht, die einen merkwürdig metallischen Geschmack in Macs Mund zurückließ, als sie ihre mentalen Schutzschilde weit genug senkte, um etwas davon durchzulassen. Aber drei von ihnen waren Kinder, und obwohl sie es nicht mit Sicherheit wusste, hätte sie ihre gesamten Ersparnisse darauf verwettet, dass mindestens zwei davon unter zehn waren. Denn von ihnen ging eine immer noch starke Welle der Hoffnung aus. Das kann nicht sein.
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