Die Zeit, die Zeit (German Edition)
schweren Einkaufstüte in jeder Hand machte sich Taler auf den Weg nach Hause.
In Knupps frisch geharktem Gemüsebeet stöberten zwei Amseln nach Würmern. Er blieb kurz stehen und betrachtete den Garten. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sein Eindruck, etwas habe sich verändert, mit diesem Grundstück zu tun hatte.
Bei den Briefkästen stellte er seine Einkaufstaschen ab und sah in seinen Schlitz. Nichts. Als er die Taschen wieder aufhob, warf er einen Blick zu Knupps Haus. Er sah gerade noch, wie der alte Mann vom Fenster in den Schatten des Zimmers zurücktrat.
Die Batterie war geladen. Er setzte sie ins Gehäuse ein, baute Stativ und Kamera an der Stelle auf, wo er immer stand, und machte ein paar Referenzfotos. Für das nächste Mal, wenn er das Gefühl hatte, etwas sei anders.
Danach setzte er sich mit der Zeitung in einen der Wohnzimmersessel und versuchte zu lesen.
In einem Stadtkreis ganz in der Nähe war eine junge Frau erschossen worden. Sie lag im Vorgarten des Hauses ihrer Eltern. Keine Zeugen, keine Verdächtigen, kein Motiv.
Die Meldung war kurz, wohl weil die Zeitung erst knapp vor Redaktionsschluss davon erfahren hatte. Aber für den folgenden Hinweis war genug Zeit geblieben:
»Der Fall erinnert an den Fall Laura W. vor etwas über einem Jahr. Die junge Frau war vor ihrer Haustür erschossen worden, während sie darauf wartete, dass ihr Mann die Haustür öffnete (sie hatte den Schlüssel vergessen). Die Polizei tappt bis heute im Dunkeln.«
Sie wussten nicht, wie viel Zeit er sich gelassen hatte, um auf den Türöffner zu drücken. Niemand wusste es, auch der Polizei hatte er nichts davon erzählt. Nur, dass sie Sturm geläutet hatte. Aber nicht, wie lange.
Er ließ die Zeitung auf den Teppich fallen und stand abrupt auf, um die Bilder zu vertreiben: Laura mit ihrem Mörder im Rücken, wie sie Sturm läutet, um ihr Leben zu retten. Er selbst oben in der Wohnung, wie er zur Strafe für ihr Zuspätkommen und ihr Schlüsselvergessen aufreizend langsam zur Tür geht.
Und der Mörder. Wie er auf Laura zielt und sie von hinten ins Herz trifft.
Die Ballistiker konnten nicht einmal genau bestimmen, woher der Schuss kam. Alles, was sie wussten, war, dass es sich beim Projektil um das Kaliber .22 lfB Subsonic handelte. Munition, die hauptsächlich beim Sportschießen verwendet wird. Subsonic bedeutete, dass der Schuss aus einer schallgedämpften Waffe abgegeben worden war.
Je länger sich keine Hinweise finden ließen, desto hartnäckiger setzte sich die Vermutung durch, dass Laura tatsächlich nur zum Sport abgeknallt worden war.
Das Einzige, was darauf hindeutete, dass sie den Schützen gekannt oder zumindest gesehen haben musste, war ihr Sturmläuten. Obwohl: Dass Laura Sturm läutete, war auch früher schon vorgekommen.
Sie war nach der Arbeit noch mit Barbara ins Troca gegangen. Barbara war eine Arbeitskollegin, die sie schon aus ihrer Ausbildungszeit kannte. Die beiden Frauen hatten Prosecco getrunken, ziemlich viel in anderthalb Stunden, die Gerichtsmedizin wies einen Blutalkoholwert von eins Komma zwei nach.
Um Viertel vor acht nahmen die beiden Frauen den Bus. Barbara stieg nach drei Stationen aus, Laura fuhr weiter. Es gab Zeugen, die sie allein im Bus gesehen hatten. Sie habe dagesessen und vor sich hingelächelt und manchmal sogar ein bisschen aufgelacht.
Auch der Busfahrer konnte sich an sie erinnern. Sie habe beinahe die Station verpasst und, als er schon anfahren wollte, »Stopp!« gerufen. Er habe noch einmal angehalten und die Tür geöffnet, und sie habe sich herzlich bedankt. Sie sei der einzige Fahrgast gewesen, der an der Station Kalkstraße ausgestiegen sei.
Die letzte Zeugin, die Laura lebend gesehen hatte, war Frau Kaab, die Bewohnerin vom Gustav-Rautner-Weg 33, dem Haus mit den Sonnenkollektoren. Sie hatte den Müll zum Container gebracht und mit Laura ein paar Worte gewechselt. Sie habe lachend zu ihr gesagt: »Eigentlich Männerarbeit.« Und Laura habe geantwortet: »Wir wechseln uns ab. Einmal bring ich ihn raus und das andere Mal er nicht.«
Wenig später wurde Laura Wegmann von Herrn Zeier vor dem Hauseingang tot aufgefunden. Alle Nachbarn wurden befragt. Niemand hatte etwas gehört. Niemand hatte etwas gesehen.
Peter Taler öffnete die Schublade der kleinen Kommode neben der Garderobe in der Diele und wühlte in den Fresszetteln, Briefumschlägen, Notizen, Fahrkarten und Geschäftskärtchen, die sie fast bis zum Rand füllten. Es dauerte eine Weile, bis
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