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Die Zeit-Moleküle

Die Zeit-Moleküle

Titel: Die Zeit-Moleküle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D.G. Compton
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schlug es auf und fand das gleiche Wort, an das er sich noch erinnerte
    NACKTHEIT
    Ja, das war an einem Abend gewesen, als er noch ein Junge war. Raben saßen in den Baumwipfeln, Rauch kräuselte sich aus seinem Schornstein, eine Eule schrie in der Stille. Damals, als Penheniot noch ihm allein gehört hatte. Nein, als Penheniot niemandem gehört hatte und er es für sich benutzte. Er wendete das Blatt
    NACKTHEIT
    Das Wort entsetzte ihn immer noch. Auf dem Blatt sah es immer noch geheimnisvoll aus, aufregend, prickelnd. Es hatte nichts gemein mit den Leuten, die in der Öffentlichkeit schamlos alles zeigten, was Gott ihnen gegeben hatte. Es bedeutete geheime, private, gehortete Freude. Er spürte, wie sein Körper darauf antwortete. Auf den Traum, auf den Blick durch das Schlüsselloch. Und dann wieder, auf der Titelseite –
    NACKTHEIT
    Es hatte eine Zeit gegeben – es mußte eine Zeit gegeben haben –, als er jung, frei und ungezwungen gelebt hatte. In einer goldenen Zeit. Er stand verzückt und träumte von diesem Zeitalter, während das Behagen durch seine Fingerspitzen in ihn einströmte.
    Hinter ihm sperrte Liza Simmons die Labortür auf und öffnete sie so leise, daß er es nicht bemerkte. Sie starrte ihn an wie seinen Geist. »Roses?«
    Sie hatte das Wiedertreffen oft geprobt. Sie hatte fest daran geglaubt, siebenundfünfzig Jahre lang. Sie beobachtete, wie er sich umdrehte, fürchtete seine Unsicherheit, das teilweise Wiedererkennen, auch den Schock, wenn er sie sah. »Miß Liz?«
    »Ja und nein.« Sie gab sich so, wie sie das vor der Öffentlichkeit tat. Sie sprach mit der Stimme der Präsidentin. Das war ihr bester Schutz. Und ein Wechsel des Themas. »Ich sehe, du hast unser Buch entdeckt. Was hältst du davon?«
    »Ich habe es schon einmal gesehen. Gute Arbeit.«
    »Unsinn. Du kannst es gar nicht gesehen haben. Es ist eben erst fertiggestellt worden. Es wird mindestens tausend Jahre bestehen, Roses. Menschen werden es lesen, nachdem alle unsere Fehler, Idioten und schlauen Einfälle längst vergessen sind. Sie werden es lesen und verstehen.« Sie sprach jetzt in dem lehrhaften Ton, den sie immer im Gerichtssaal anschlug. Roses war zu unmittelbar, zu sehr Bestandteil eines Mädchens, das längst gestorben war. »Eine ganze Lebensphilosophie steckt darin, Roses. Manchmal glaube ich, wir haben versucht, zu viel in das Buch hineinzupacken. Doch wenn unsere jungen Sprachkünstler sich gründlich damit befassen werden … Alles, was sie heute wissen, wissen sie aus Büchern, verstehst du?«
    Sie sah, daß Roses überhaupt nicht mitkam. Sie hatte ganz vergessen, was er war.
    »Warum sind denn hier so viele kleine Plaketten?« fragte er. »Und wo kommen denn plötzlich diese vielen Bäume her?«
    »Eine lange Zeit ist inzwischen vergangen. Die Bäume wachsen. Und das Labor ist jetzt ein Staatsmuseum.«
    Für ihn lag darin nicht die Spur einer Antwort.
    »Und wo sind die Leute geblieben? Mr. Silberstein, der alte, tapsige Professor und der andere alte Mann – wo sind die alle hin?«
    Sie seufzte. Es hatte keinen Sinn, wenn sie ihm erzählte, daß sie alle tot waren: Professor Krawschensky, der sechs Monate nach der Auflösung des Forschungszentrums bei einem Aufstand ums Leben gekommen war, ehe sein Kind zur Welt kam; der andere alte Mann, der Gründer, der sogar noch miterlebte, wie sie alle wieder ins Dorf zurückkehrten, und der dann ein paar Wochen später von seiner Frau mit der Schere erstochen wurde; und der Projektleiter, der sich selbst richtete, irgendwann in den Jahren, die danach folgten. Im Buch hatte Liza behauptet, Roses hätte bis zuletzt nicht gewußt, was mit ihm geschah. Manchmal, wenn sie sich vor sich selbst verteidigen mußte, hatte sie sich eingeredet, er hätte etwas gewußt, hätte etwas wissen müssen. Doch jetzt begriff sie, daß er nichts ahnte.
    »Sie sind … nicht hier«, sagte sie stockend. »Ich bin jetzt der Leiter des Dorfes.«
    Er trat wieder ans Fenster. Es gab zu viele Dinge da draußen, die nicht zueinander paßten. Er starrte auf die Bäume, auf das vom Regen benetzte Wasser. Es waren schöne Bäume im hellgrünen Schmuck ihrer Frühlingsblätter. Doch die Frau hinter ihm bedrückte ihn. Nichts an ihr war richtig. Bestimmt war sie Miß Liza – aber ihr Gesicht war jetzt plump und glatt wie ein Kissen. Ihre Stimme erinnerte ihn an ein Radio. Er reagierte viel mehr auf den Ton als auf die Bedeutung, und ihre Stimme erinnerte ihn an nichts so sehr wie an den anderen alten

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