Die Zeit-Moleküle
waren mit dem alten Ruderboot von Varco den Fluß hinaufgefahren bis zu der Stelle, wo die Hausboote angebunden waren. Als Ausrede und Vorwand hatte Liza die Schwäne genommen. Sie hatte sich eingeredet, sie wollten nur die Schwäne beobachten. Aber sie hatten keinen einzigen Schwan entdecken können. Liza brach deswegen keineswegs das Herz. Sie konnte Roses Begeisterung für Schwäche nicht teilen. Sie hielt sie für bösartig, gefräßig und rücksichtslos. Roses ruderte ganz dicht an den Hausbooten entlang, so daß Liza durch die Bullaugen und Fenster blicken konnte. Sie blickte gleichsam durch ein rundes Schlüsselloch in eine andere Welt: Beratungsraum, Gemeindesaal, eine Reihe von würfelartigen Kabinen, als handle es sich hier um einen Tempel der Wissenschaft. Die Kinder an Deck blickten sie schläfrig an. Die Frauen hielten in der Arbeit inne, um sie ebenfalls anzustarren. Es waren Frauen mit langen Haaren, in eigenartigen, selbstgestrickten Gewändern, nicht ganz sauber. Niemand sprach sie an. Die Dorfbestimmungen hätten Liza sowieso verboten, Fragen zu beantworten; doch das totale Schweigen bedrückte sie. Über dieser Hausboot-Gemeinde lag wie eine Dunstglocke die Isolation der Verzweiflung, der totalen Beschränkung auf sich selbst und die Gemeinde, der Beschäftigung nur mit sich selbst. Selbst die drogenberauschten Kinder waren ganz anders als die drogenberauschten Kinder, die sie bisher erlebt hatte. Roses wendete dann hinter dem letzten Hausboot, und sie fuhren wieder flußabwärts.
Die Luft war schwer und voller Gerüche. Der Abendhimmel glich einer Wunde, mit eitergelben Streifen und schwärigem Rot. Der Fluß wand sich, verdächtig schillernd, zwischen den dunklen, schweigenden Hügeln hindurch. Die Flut stemmte sich jetzt gegen das Boot, und sie bewegten sich nur langsam vorwärts. Roses stemmte sich gegen die Ruder, die Stirn gerunzelt vor Anstrengung, sein Atem überlaut in der bleiernen Stille. Liza hielt sich am Dollbord fest, spürte das Holz bei jedem Schlag arbeiten. Dreißig Jahre Farbanstrich unter ihren Fingern, darunter die Kerben und Narben abgenützten Holzes. Auf der Fahrt stromaufwärts hatten sie sich von der Flutwelle mittragen lassen. Jetzt hielt sich Roses an das träge wirbelnde Wasser in der Nähe des Ufers. Der Steuerbord-Riemen tauchte nur Zentimeter vor den tiefhängenden Zweigen ein, in denen sich grünlich verfärbte Plastikschachteln, graue Toilettenpapier-Rollen und anderer Abfall verfangen hatte. Nichts regte sich hier, weder am Ufer noch in der Luft.
Liza blickte nach vorn. Gleich würden sie die Einmündung eines kleinen Baches kreuzen. Zwischen dem dichten, tangverhangenen Gestrüpp schimmerte etwas Weißes hervor. Vielleicht hatten sie den Nistplatz der Schwäne entdeckt. Sie berührte Roses’ Knie und deutete hinüber. Er blickte über die Schulter und bewegte jetzt die Riemen in entgegengesetzter Richtung. Das Boot wurde sofort langsamer, verharrte dann vor der Einmündung, während das Heck von der Strömung abgedrängt wurde. Er ruderte sacht, hielt das Boot parallel zum Ufer und betrachtete die Stelle in der kleinen Bucht, wohin Liza mit dem Finger deutete. Er lenkte das Boot noch dichter heran.
Zwei Schwäne waren in der winzigen Bucht. Mit hängenden Flügeln schaukelten sie leise auf dem Wasser, die Hälse ausgestreckt, tot. Voll Entsetzen sah Liza, daß sie die Augen offen hatten.
Roses schlug die Riemen energisch in das mit grünlich schillernden Kugeln gesprenkelte Wasser, schoß zwischen die Zweige hinein, lief auf dem steinigen Strand auf. Liza wurde auf der Ducht nach vorn geschleudert, doch Roses achtete jetzt nicht auf sie. Er beugte sich über den Bootsrand, um einen der toten Schwäne an Bord zu hieven. Er knurrte ärgerlich über das Gewicht des toten Körpers. Er fiel klatschend auf den Boden des Bootes, Schleim verspritzend. Im dämmrigen Abendlicht kam Liza der Schwan riesengroß vor. Und ekelerregend.
»Teufel, Teufel …« Roses drehte den toten Schwan herum und untersuchte die Haut unter den Federn. »Was hat sie umgebracht? Kein Blut, nichts. Wer hat das getan?«
Liza wußte es. Sie lehnte sich zurück. Der Geruch würgte sie im Hals. »Umweltverschmutzung«, sagte sie.
»Was ist das denn?«
»Der Schmutz im Fluß.« Lohnte es sich, das noch näher zu erklären? »Die Fäkalien, die Scheiße, die Chemikalien, die Abwässer, die wir tonnenweise in den Fluß gießen.«
»Wir? Wir machen so etwas nicht.«
»Ich meine die Leute,
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