Die Zeit-Moleküle
überstanden. Er hatte beschlossen, über der Sache zu stehen; denn offenbar hatte Liza nicht das geringste bemerkt. Also konnte er jetzt auch auf die beiden hinabschauen. Roses und Liza standen kleinlaut nebeneinander vor seinem Schreibtisch wie zwei Kinder, die etwas ausgefressen hatten. Wenn sie sich paarten, war das ihre Angelegenheit. Er war der Projektleiter. Er hatte keinen Haß auf Roses. Er hatte kein Begehren nach Liza. Er war nur der Chef. Nur stimmte das nicht ganz.
Er hielt den beiden einen langen Vortrag (väterlich zwar, aber mit deutlicher Warnung) und schickte sie dann wieder fort. Dann diktierte er ein Memo in den Autosek, das am Anschlagsbrett ausgehängt werden sollte: Alle Ausflüge über die Dorfgrenze hinaus waren bis auf weiteres verboten. Vielleicht war es für diesen Anschlag bereits zu spät. Er hatte bereits einen Ordner voller Zeitungsausschnitte auf seinem Schreibtisch liegen, in denen flammende Proteste gegen das Dorf erhoben wurden. Und jetzt das … Er stand müde von seinem Schreibtisch auf und trat ans Fenster. Spitze Dächer, schöne, alte Bäume, hier und da Lichter aus kleinen Fenstern, in der Ferne das vom Mondlicht versilberte Wasser des Pill. Ein so idyllischer Friede konnte ja nicht von Dauer sein, hatte schon viel zu lange angehalten. Schließlich war der Friede von Anfang an eine Lüge gewesen, eine künstlich aufgebaute Täuschung. Und diese Täuschung zog ihren eigenen Unfrieden groß.
Er wendete sich schroff vom Fenster ab und ging rasch, mit gesenktem Kopf nach Hause, wo Mrs. Berman wie eine Mutter für ihn sorgte.
Trotz Silbersteins böser Vorahnungen blieb seine Nachtruhe ungestört. In St. Kinnow allerdings knallten die Fäuste auf die Tische, als Petes und Harrys Geschichte die Runde machte, und Fahrradketten schälten so manchen Span von unschuldigen Tischbeinen herunter. Doch der Anlaß war vage, so wenig unmittelbar und anschaulich. Es war lohnender, viel mehr high, wenn man seine Rachegefühle an den Schaufenstern und in den Läden an der Esplanade austobte.
Am nächsten Morgen war Professor Krawschensky schon vor Liza im Labor, obwohl sie dort eine halbe Stunde vor der festgesetzten Zeit auftauchte. Der neue Beschleuniger wurde eingebaut, eine neue Anordnung von Filtern wurde installiert. Der Professor trippelte auf sie zu und rang vorwurfsvoll die Hände.
»Immer, wenn ich Sie brauche, mein Kind, sind Sie nicht da. Nachmittags frei, abends ins Freie ausschwärmend … Arbeiten Sie noch für mich, oder täusche ich mich da?«
Er erwartete keine Antwort von ihr. Vielleicht war sein Vorwurf berechtigt. Vielleicht verbrachte sie zuviel von ihrer Zeit mit Roses. Einer der großen Vorzüge von Roses bestand darin, daß er immer beschäftigt war, aber nie arbeitete … Sie konnte sich keine bessere Lebensweise vorstellen. Sie sagte dem Professor, daß ihr das alles sehr leid täte.
»Leid? Was soll das bedeuten, es täte Ihnen leid? Letzte Nacht erlebte ich den Durchbruch, und es tut Ihnen leid.« Sie trat an ihren Platz vor dem Computer; aber er scheuchte sie fort. »Ich habe ihn einmal selbst gesteuert, also werde ich es auch das zweite Mal fertigbringen. Sie schauen zu. Manchmal glaube ich, daß Sie dazu am besten geeignet sind.«
Sie nahm auch das von ihm hin. Sie stellte sich ans Fenster, wohin er sie abgeschoben hatte, und sah zu. Er war so glücklich, während er den holographischen Beobachter aufstellte, so glücklich, daß sie nicht im Labor gewesen war, um ihm zu helfen. Und die ganze Zeit über verschmolz die Szene vor ihr mit den Bildern von gestern abend. Sie sah das weiße Ruderblatt, das Blut, den toten Schwan. Professor Krawschensky redete ununterbrochen, bombardierte sie mit Formeln, mit chronomischen Koeffizienten, mit neuen Ideen. Das war das Zeug, aus dem ihr Leben sich zusammensetzte, sich immer zusammengesetzt hatte.
»Unser Fehler, Kind, war es, daß wir die Pannen in der Wiedereintrittsperiode vermutet haben. Der Wiedereintritt ist gar nichts, so natürlich wie die Geburt und wahrscheinlich viel weniger schmerzvoll. In der vergangenen Nacht setzte ich den Hebel am anderen Ende an, unter der Voraussetzung, daß der molekulare Zusammenbruch beim Start passiert, gleich hinter dem sichtbaren Spektrum.«
Er fingerte am Okular. Sie war jetzt interessiert; zwang sich aber zur Ruhe, bis seine hypernervösen, alten Finger zurechtkamen.
»Da lag also mein Problem. Über das sichtbare Spektrum hinaus zu sehen.« Sie dachte sofort an den
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