Die Zeit-Moleküle
heranzuziehen, um seine dienstliche Funktion zu erfüllen. War er das? Vor ihm stieg ein Mädchen aus dem Wasser, balancierte am Rande des Kais und sprang dann wieder ins Wasser. Natürlich war er dazu berechtigt. Nicht seine Neigung trieb ihn an, sondern sein Pflichtgefühl. Unter dem Kai lachten die Badenden und spritzten sich gegenseitig Wasser ins Gesicht. Wenn seine Pflicht ihm einen Weg vorschrieb, mußte er ihn gehen.
Eine delikate, intime Sache. Intime Sachen setzten intime Situationen voraus. Als Projektleiter, als Vater von einer Reihe über das Land verstreuter Kinder war ihm seine Pflicht klar und deutlich vorgezeichnet.
Zweifellos hatte sie einen gesunden Appetit, wie Daniel behauptet hatte. Ein gesunder Appetit verlangt nach gesunder Nahrung. Als Mann, als ein Mann, den sie bestimmt nicht unsympathisch fand, war ihm seine Pflicht ebenfalls klar und deutlich vorgezeichnet.
Wenn sie hungrig ist, richtig hungrig, würde sie über die Konsequenzen nicht nachdenken. Und die Folgen – bei einem so sensiblen Mädchen wie Liza – nicht auszudenken … Es war keine Zeit mehr zu verlieren. Er stand auf und ging zurück in sein Quartier. Sein Entschluß stand fest.
Das Dachfenster mit den Butzenscheiben blickte auf einen kleinen Hof hinaus. Geranien wuchsen dort in großen Töpfen. Neben einer verrosteten Wäschemangel schlief eine große, rotbraune Katze. Ober den weißgekalkten Wänden ragten schiefe Schornsteine und schräge Giebel auf. David Silberstein starrte aus seinem Schlafzimmerfenster, ohne das alles wahrzunehmen. David Silberstein versuchte, nicht realistisch zu sein. Et versuchte, sich zu erinnern, wie er – obwohl der Vorschlag, sich zu paaren, von ihr gekommen war – so verwirrt war, daß er sich außerstande sah, ihr Angebot anzunehmen. Er verdrängte die Erinnerung an zahllose Mädchen, deren Hand zu halten er sich nicht getraut hatte. Er dachte nicht an die langen Jahre, wo er sich in Enthaltsamkeit geübt und vor Frustration in das Kopfkissen gebissen hatte. Er dachte nicht an den einzigen Ausweg, der ihm geblieben war, das Masturbieren im Schlafzimmer mit vorgezogenen Vorhängen und zur Wand gedrehtem Spiegel. Doch bisher war er auch noch nie so verliebt gewesen, nicht so in Liebe entbrannt. Liebe (das altmodische Wort, das sich ihm flüsternd aufdrängte), Liebe verlieh einem Mann Mut. Es würde auch ihm Mut geben. Es mußte ihm Mut einflößen. Rasch jetzt, ehe es zu spät war. Wenn es nicht bereits zu spät war.
Er stellte sich unter die Dusche, öffnete dann den Schrank und kramte in seinen Sommersachen, ob er nicht etwas besonders Jugendliches finden konnte. Die linke Tür schwang ganz zurück und fing sein Bild ein, weil die Innenseite mit einem mannshohen Spiegel versehen war. Er betrachtete seinen nackten Körper. Jugendlich und anziehend? Nun, bestimmt nicht alt oder sonderlich abstoßend. Auf jeden Fall nicht abstoßend für eine Frau. Wahrscheinlich nicht. Er betrachtete sich eingehend, wenn auch mit leichter Schamröte. Brust, Arme, Bauch, Penis, Hoden, Knie, Knöchel … alles das nicht anziehender oder abstoßender als bei allen anderen Männern, die er täglich in seiner Umgebung sah. Er schwang auf den Fersen herum, fand die Seitenansicht ein bißchen vorwitziger und drückte die Sache nach unten. Sie kam wieder hoch. Nun, ein Nachteil war das nun auch wieder nicht – vielleicht mochten Frauen, daß Männer vorwitzig waren. Auf jeden Fall hatte Gott ihn so geschaffen, und die Nacktheit sollte einem ja die Hemmungen nehmen …
Seine Pflicht war ihm jetzt noch klarer vorgezeichnet. Er legte Socken und Schuhe an. Die Schuhe verdarben irgendwie den Eindruck. Also ersetzte er sie durch Sandalen. Die Sonnenbrille vervollständigte seinen Anzug. Die Sonnenbrille brachte ihm sichtlich Erleichterung. Er war angezogen. Mit der Brille glich er so sehr irgendeinem anderen, daß ihn vielleicht gar niemand wiedererkannte – ausgenommen Liza, wenn er die Brille abnahm. Nicht, daß ihn dieser Gedanke störte, wenigstens nicht ihn, als David Silberstein. Doch er war ja gleichzeitig der Projektleiter. Und die Schamteile des Projektleiters durften nicht leichtfertig herumgeschleudert werden, hatten immerhin auch rangrespektierliche Bedeutung. Doch mit der Sonnenbrille konnte er es durchaus schaffen, inkognito das Dorf zu durchqueren.
Er ging die Treppe hinunter und zögerte vor der geschlossenen Tür seiner Herbergsmutter. Er hörte sie in der Küche hantieren, den Tisch decken. Es
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