Die Zeitfalte
er ist.«
»Hier ist Ihr Sandwich«, sagte Meg und reichte ihr den Teller.
»Würde es Sie stören, wenn ich zuvor meine Stiefel ausziehe?« erkundigte sich Frau Wasdenn, biß aber trotzdem zuerst vom Brot ab. »Hören Sie sich das an!« Sie bewegte die Füße in den Schuhen, bis alle es schmatzen hören konnten. »Meine Zehen dampfen schon. – Das Dumme ist nur, daß diese Stiefel eine Spur zu eng sind; allein komme ich da nicht raus.«
»Ich helfe Ihnen!« bot Charles sich an.
»Du nicht. Du bist nicht stark genug.«
»Lassen Sie mich machen!« Frau Murry kniete sich vor ihr hin und begann an einem Stiefel zu zerren. Erst glitt sie daran ab, aber dann ging alles mit einem Ruck: Frau Murry setzte sich aufs Hinterteil, und Frau Wasdenn kippte auf dem Stuhl hintüber, wobei sie das Thunfischbrot umklammerte, als wolle sie sich daran festhalten. Aus dem Stiefel klatschte ein Wasserschwall und ergoß sich auf den Fußboden und auf den Teppich.
»Ach, du liebe Güte!« rief Frau Wasdenn. Sie lag in dem umgekippten Stuhl, ihre Beine strampelten in der Luft, der eine Fuß steckte noch im Stiefel, vom anderen schlenkerten rot-weiße Ringelsocken.
Frau Murry rappelte sich auf. »Es ist Ihnen doch nichts zugestoßen?« fragte sie besorgt.
»Wenn Sie vielleicht eine Salbe für meinen Podex hätten … « bat Frau Wasdenn, ohne ihre Lage zu verändern. »Ich fürchte, ich habe mir das Steißbein verstaucht. Eine Prise Gewürznelkenöl, gut mit Knoblauch verrührt; das wirkt Wunder.« Und sie biß herzhaft von ihrem Sandwich ab.
»Bitte stehen Sie jetzt endlich auf!« rief Charles unwillig. »Ich mag es nicht, daß Sie so daliegen. Sie treiben die Sache zu weit.«
»Hast du schon einmal versucht, mit einem verstauchten Podex auf die Beine zu kommen?« jammerte Frau Wasdenn, richtete sich aber trotzdem mit einiger Mühe auf. Sie stellte den Stuhl richtig hin, setzte sich dann aber lieber neben ihn auf den Boden, streckte das Bein mit dem Stiefel aus und biß vom Brot ab. Für eine Frau in ihrem Alter wirkte sie bemerkenswert gelenkig, fand Meg. Sie kam ihr wirklich schon ziemlich alt vor, sehr alt sogar.
Mit vollem Mund sprechend, kommandierte Frau Wasdenn: »Jetzt das andere Bein! Ziehen Sie nur recht fest an! Diesmal kann ich ja nicht mehr auf den Boden plumpsen.«
In aller Ruhe, als sei es etwas ganz Alltägliches, einer alten Hexe aus dem Stiefel zu helfen, machte sich Frau Murry ans Werk, bis auch der zweite Fuß befreit war. Er steckte in einem grauen Strumpf. Frau Wasdenn blieb sitzen, bewegte genüßlich die Zehen und machte erst dem Sandwich den Garaus, ehe sie endlich aufstand.
»Ah!« schnaufte sie, »tut das gut!« Sie nahm beide Stiefel und kippte das Wasser in den Ausguß. »Ich bin satt; ich habe mich innen und außen aufgewärmt; also wird es Zeit, daß ich mich wieder auf den Weg mache.«
»Wollen Sie nicht lieber bis morgen früh bei uns bleiben?« schlug Frau Murry vor.
»Oh, besten Dank, meine Liebe, aber das geht nicht. Ich habe noch so viel zu tun; da darf ich meine Zeit nicht damit vergeuden, herumzusitzen und dumme Spaße zu machen.«
»Ich kann Sie doch unmöglich bei diesem Unwetter aus dem Haus lassen!«
»Aber ich schwärme doch geradezu für Unwetter!« widersprach Frau Wasdenn. »Ich bin nur in einen lästigen Abwind geraten und vom Kurs geblasen worden.«
»So warten Sie doch wenigstens, bis ihre Socken wieder trocken sind … «
»Nasse Socken machen mir nichts aus. Ich mag es bloß nicht, wenn das Wasser in meinen Stiefeln schwappt. Machen Sie sich bitte keine Sorgen um mich, mein Lämmchen!«
(Daß jemand auf den Gedanken kommen konnte, Frau Murry ausgerechnet als »Lämmchen« zu bezeichnen, war bemerkenswert.)
»Also dann!« seufzte sie. »Hinein in die Stiefel, und weiter geht es! – Ach, übrigens, meine Liebe, da wir schon einmal vom Weiterkommen sprechen: Es gibt tatsächlich so etwas wie eine Tesserung.«
Frau Murry wurde kreidebleich und klammerte sich wie hilfesuchend an die Stuhllehne. »Was sagen Sie da?«
Frau Wasdenn schlüpfte mittlerweile bereits in den zweiten Stiefel. »Ich habe gesagt … «, knurrte sie, bückte sich grunzend und stampfte den Fuß in den Stiefel. »… daß es … «, sie trat noch einmal auf, »… daß es tatsächlich eine Tesserung gibt.«
Jetzt hatte sie es geschafft. Sie raffte ihre Tücher und die Stola zusammen, setzte sich den Hut auf – und war im nächsten Augenblick, ohne ein weiteres Wort, verschwunden.
Frau Murry saß
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