Die Zeitstraße
Einleitung
Die vorliegende Sammlung von Kunstgeschichten repräsentiert die wahllos aufgeklaubten Resultate eines Gedankenexperimentes. Das Experiment begann mit der folgenden Überlegung:
Unser Universum – ob wir es nun schon bis zu seinen Grenzen kennen oder nicht – stellt sicherlich nur eine der vielen Möglichkeiten dar, nach denen sich ein Universum aufbauen läßt. Man setze den Fall, daß außer unserem Universum auch alle anderen denkbaren Möglichkeiten verwirklicht sind – daß es einen n-dimensionalen Überraum gibt, in den die Gesamtzahl dieser denkbaren Universen eingebettet ist.
Dann kann man das Experiment fortsetzen mit dem Gedanken:
Ein Bewußtsein, sei es nun menschlich oder tierisch oder pflanzlich, solange es nur ein Bewußtsein ist, hat kraft der ihm innewohnenden Energie die Möglichkeit, sich von einem dieser Universen zum andern zum andern zum andern … und immer weiter zu bewegen. Es reflektiert die Universen, die es passiert. Es formt sich ein Bild von ihnen und von der Sequenz, die die durchzogenen Universen bilden.
Soweit sind wir allgemein geblieben. Das Experiment jedoch fordert, soll es Resultate erzeugen, daß wir spezifisch werden.
Man stelle sich ein Urmeer vor. Es mag meinetwegen mitten im Weltall schwimmen oder auf der Oberfläche einer Urwelt. Das spielt keine Rolle. In diesem Urmeer befinden sich winzige Organismen, die primitivste, bewußte Form des Lebens überhaupt. Das Bewußtsein dieser Ur-Organismen springt wahllos von einem Universum zum andern, von nahen zu weit entfernten, von solchen, die eine gewisse Ähnlichkeit miteinander haben, zu solchen, die untereinander auf drastische, groteske Art und Weise verschieden sind. Ein Wesen, das zuläßt, daß sein Bewußtsein derart willkürliche Sprünge vollführt, kann sich nicht orientieren. Der Begriff der Kausalität, der Zusammenhang von Ursache und Wirkung, entgeht ihm völlig. Es ist ein hilfloses Geschöpf, das auf das eigene Geschick keinerlei Einfluß nehmen kann, ein Spielball seines undisziplinierten Bewußtseins.
Von den Wesen, die sich im Urmeer tummeln, werden jedoch eines oder mehrere das zufällige Glück haben, daß ihr Bewußtsein nur Bewegungen durch einander ähnliche, einander benachbarte Universen vollführt. Auf das Universum, in dem über dem Urmeer eine Schneewolke steht, folgt zum Beispiel das Universum, in dem die Temperatur der oberen Wasserschichten drastisch erniedrigt ist. Und dann ein Universum, in dem viele Urwesen, die an höhere Wassertemperaturen gewöhnt sind, sterben.
Aus dieser Sequenz ähnlicher oder benachbarter Universen entwickelt das Urwesen, dem solches Glück beschieden ist, einen Sinn für Kausalität. Auf Schneewolke folgt Temperatursturz, folgt Todesgefahr. Hat es die erste derartige Katastrophe überlebt, kann es sich auf die zweite einrichten. Sieht es die Wolke, taucht es in größere Tiefen, wo die Temperaturen zwar nicht besonders gemütlich, aber wenigstens gleichbleibend und daher überlebensfreundlich sind. Der Vorteil, den dieses glückliche Wesen über jenes mit dem undisziplinierten Bewußtsein hat, liegt auf der Hand: Dieses kann sein Geschick beeinflussen, jenes aber bleibt für immer ein Spielball des Zufalls.
Man stelle sich weiterhin vor, daß die Natur unter den Urwesen im Urmeer eine Auswahl trifft. Am ehesten überleben die, die das Glück hatten, ein diszipliniertes Bewußtsein zu besitzen, am seltensten die, deren Bewußtsein unkontrolliert zwischen den verschiedensten Universen hin und her hüpft. Schließlich, nach vielen Generationen, bleibt nur die erstere Art übrig. Die anderen Arten sterben aus Mangel an Fähigkeit, das eigene Geschick zu formen.
Das disziplinierte Bewußtsein herrscht. Die Kausalität ist geboren, und damit das subjektive Empfinden für den Ablauf der Zeit. Denn nicht anders als mit dem Modellbild der Zeit interpretiert der Ur-Organismus die Wanderung durch benachbarte, d.h. ähnliche, Universen. Die Wolke kommt zuerst, dann die Kälte und zum Schluß die Todesgefahr. Die Worte »zuerst«, »dann« und »zum Schluß« sind Attribute der Zeit. Von jetzt an hat jede Entwicklung, jeder Vorgang, ein Früher und ein Später. Alles hat einen Anfang und ein Ende, und sie kommen immer in dieser Reihenfolge: zuerst der Anfang, dann das Ende.
Der Ur-Organismus und die Geschöpfe, die nach ihm kommen, bis hinauf zum Menschen, haben ihre Welt in Ordnung gebracht. Nichts ist da mehr zu spüren von der Verwirrung der anderen,
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