Die Zeitung - Ein Nachruf
„urban legends“, wie wir jetzt wissen. Und der professionelle Journalismus wird sich irgendwo in diesem kommunikativen Chaos, in dem man den Status und den Wert einer Nachricht nicht mehr an ihrer Form erkennen kann, einen neuen Platz erkämpfen müssen.
Denn das Axiom, auf dem ihre Stärke für so lange Zeit beruhte – dass nämlich Gedrucktes als Garantie für Wahrheit und Gesprochenes als Unterminierung dieser Wahrheit angesehen wird –, dieses Axiom gilt nicht mehr. Da könnte es sich lohnen, zurückzusehen ins 15. und 16. Jahrhundert, als es noch keine oder doch nur sehr basale Formen formaler Kommunikation gab (unregelmäßige Einblattdrucke etc.): Was haben die Menschen damals, als es noch keine Bücher gab, gemacht, um „die Wahrheit“ herauszufinden? Auf welcher Grundlage trafen sie ihre Entscheidung, der einen Information zu vertrauen und der anderen nicht? Die Vertreter der Theorie von der Gutenberg-Parenthese gehen davon aus, dass die Antworten, die wir heute auf die neu auftauchende Frage, wem man denn in dem um sich greifenden kommunikativen Chaos vertrauen solle, nicht sehr viel anders ausfallen würden als vor 500 Jahren.
Die Idee, dass wir jetzt, am Ende der Gutenberg-Parenthese, wieder dort angelangt wären, wo wir schon im Jahr 1500 waren, wäre allerdings zunächst einmal auch ein Produkt linearer bzw. zirkulärer Logik. Ania Wieckowski von der
Harvard Business Review Press
bezieht ihre Skepsis vor allem auf die medienökonomische Kernfrage des Urheberrechts: Unsere moderne Ökonomie, schreibt sie auf ihrem Blog 9 , hänge ganz wesentlich an der Übereinkunft, dass der Schöpfer geistigen Eigentums gewisse Rechte erwirbt, die ihm abgegolten werden müssen, und zwar nicht nur in der Medienwelt. Würde, wenn die Gutenberg-Parenthese die Entwicklung korrekt beschreibt, jetzt also das Pendel einfach zurückschwingen, „sodass wir in 1.000 Jahren wieder Kathedralen bauen werden statt Bazare?“ Die Frage sei, so Wieckowski, ob sich eine Art hegelianische Synthese zwischen der kapitalistischen Notwendigkeit des Eigentums und dem zunehmend dynamischen Netzwerk lebendigen Inhalts finden lasse.
In Summe vermitteln die Reaktionen auf die Gutenberg-Parenthese den Eindruck, als wollten auch die, die die Parallelen sehen und die unausweichlichen Folgen, die sich daraus ergeben, etwas Zeit gewinnen. Jeff Jarvis, der bekannte Journalist und Journalismuslehrer aus New York, sieht das dicke Ende erst noch kommen: „Diese Dänen“ würden argumentieren, dass die Anpassungsprozesse, die jetzt quer durch alle gesellschaftlichen Bereiche – Normen, Gesetze, Bräuche, Strukturen und Organisationen – anstünden, ähnlich schwierig würden wie seinerzeit beim Eintritt in die Gutenberg-Galaxis. Und es sei, meint Jarvis, allgemein akzeptierter Wissensstand, dass wir diese Veränderung in blitzartigem Tempo durchmachen würden. „Was aber“, fragt er, „wenn der Wandel, den wir jetzt erleben, stattdessen sehr langsam vor sich geht? Was, wenn wir erst beginnen, den Bruch zu realisieren, den das digitale Zeitalter mit sich bringt?“ 10
Jarvis zitiert den
Observer
-Kolumnisten John Naughton, der dazu aufgerufen habe sich vorzustellen, dass wir im Jahr 1472, zwei Jahrzehnte nach der Erfindung des Buchdrucks, auf einer Brücke in Mainz eine Umfrage durchführen, in der wir die Menschen fragen, ob sie denn glaubten, dass Gutenbergs Erfindung die katholische Kirche unterminieren und die Reformation befeuern; zu einer wissenschaftlichen Revolution führen; neue soziale Klassen und Berufe hervorbringen; unser Konzept von Erziehung und damit Kindheit verändern; und schließlich unseren Blick auf Gesellschaften und Nationen verändern könnten. Ziemlich sicher, so Naughton, würden wenige so gedacht haben. Die Einführung des kommerziellen Internets ist heute genauso lange her wie 1472 die Erfindung der Druckerpresse. „Der Wandel hat gerade erst begonnen“, sagt Naughton: „We ain’t seen nothin’ yet.“ 11
Wir sprechen schreibend und wir schreiben sprechend
Die Idee der „sekundären Oralität“ als Wiederherstellung oraler Kommunikationsstrukturen auf der Grundlage von Schriftlichkeit hat sich schon ziemlich fest in unserer Kommunikationskultur verankert. Jeder, der sich in „sozialen Medien“ wie Facebook oder in der Welt des „Microblogging“ (etwa auf Twitter) bewegt, kann das leicht nachvollziehen: Wir sprechen in diesen Netzwerken schreibend und schreiben sprechend. In einer
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