Die Zeitung - Ein Nachruf
Chefredakteure des Berliner
Tagesspiegel
: „Es geht darum, um ein Kulturgut zu kämpfen, um ein konstitutives Element der Demokratie, um Presse- und Meinungsvielfalt.“ Das rechtfertige jede Anstrengung, das zähle mehr als Renditeerwartungen, Geschäftsmodelle und Verlagsstrategien. Und Dirk von Gehlen, der für die
Süddeutsche Zeitung
das digitale Jugendmagazin
jetzt.de
geleitet hat, sieht in einer Tageszeitung „mehr als das Papier, auf dem sie gedruckt ist“. Das Beispiel des
Guardian
und seiner Rolle in der Berichterstattung über Edward Snowdens NSA-Enthüllungen zeige, dass die Redaktion einer Tageszeitung durch Geld, Kompetenz und Haltung so etwas wie ein „Ort der Freiheit“ sei – mit der Unterstützung der Leser und Abonnenten, die diese Haltung teilen.
Gehlen gehört gewiss nicht zu den „Print-Stalinisten“, im Gegenteil: Er ist der Autor von
Mashup
3 , einem Essay, in dem er sich mit der Kultur des Kopierens, neu Zusammenstellens und Samplings als einem wesentlichen Merkmal des digitalen Zeitalters durchaus wohlwollend auseinandersetzt. Er hat sich damit auf eine Fährte gesetzt, die zu jenem Projekt führt, das gegenwärtig vermutlich am meisten zum Verständnis der neuen Welt beitragen kann, in der wir uns seit geraumer Zeit befinden und in der es den Protagonisten und Profiteuren der Printwelt so unbehaglich geworden ist: zum Projekt „Gutenberg-Parenthese“.
Die Theorie von der Gutenberg-Parenthese
Wie schon Marshall McLuhans Überlegungen aus den frühen 60er Jahren, so stammen die interessantesten Ansätze zur Erklärung der Veränderungsprozesse, die die Medienwelt gerade durchlebt, ebenfalls aus der Literaturwissenschaft: Forscher vom Institut für Literatur, Medien und Cultural Studies der Universität von Süddänemark betreiben unter dem Titel „Gutenberg Parenthesis“ ein Forschungsprojekt zum Thema „Druck, Buch und Erkenntnis“. Der Titel stammt vom Leiter des „The Gutenberg Parenthesis Research Forum“: von Lars Ole Sauerberg.
Der international prominenteste Vertreter der neuen Theorie ist der Englisch-Professor Thomas Pettitt, der sie seit einigen Jahren in Vorträgen und Workshops an den wichtigsten Plätzen der Branche, vom Nieman Lab bis zum MIT, vertritt und diskutiert.
Die Theorie von der Gutenberg-Parenthese besagt, dass die vergangenen 500 Jahre seit der Erfindung des Buchdrucks ein „Einschub“, eine Anomalie in der kulturellen Entwicklungsgeschichte der Menschheit waren. Syntaktisch unterbricht die Parenthese einen Gedanken, der nach dem Einschub weitergeht, in diesem Fall symbolisiert sie eine Entwicklung über die Zeit, bei der das Davor und das Danach mehr miteinander zu tun haben als jeweils mit dem Inhalt der Parenthese selbst. Es geht also im Kern um eine Art Wiederherstellungsprozess, und was da wiederhergestellt wird, ist die Leitfunktion der oralen Kultur im Rahmen der kulturellen Evolution.
Pettitt ist Professor für englische Literatur, es liegt also nahe, dass er seine Überlegungen an jener Figur festmacht, die wie keine andere die literarischen Verhältnisse des Elisabethanischen Zeitalters am Beginn der Gutenberg-Galaxis repräsentiert: William Shakespeare. Gegenüber seinen Studenten, die er maßregelt, wenn er sie beim Abschreiben erwischt, sieht er sich in der Situation des Universitätslehrers und Dichters Robert Greene, der 1592 einen jungen Schauspieler und Autor als Emporkömmling brandmarkte, der es sich anmaße, zu dichten, obwohl er kein Universitätsstudium vorweisen könne: „There is an upstart Crow, beautified with our feathers, that with his Tygers hart wrapt in a Players hide, supposes he is as well able to bombast out a blanke verse as the best of you: and beeing an absolute Johannes fac totum, is in his owne conceit the onely Shake-scene in a countrey.“ („Denn es gibt eine emporgekommene Krähe, fein herausgeputzt mit unseren Federn, die mit ihrem Tigerherz, in einem Schauspielergewand versteckt, meint, Blankverse ausschütten zu können wie die Besten von euch; und als ein absoluter Hans-Dampf-in-allen-Gassen kommt er sich als der einzige Theater-Erschütterer im Land vor.“)
Der Adressat dieses Pamphlets hieß William Shakespeare, wie die Anspielung in dem Ausdruck „Shake-scene“ am Ende deutlich macht. Seine zum „Mashup“ neigenden Studenten, sagt Thomas Pettitt, hätten etwas mit Shakespeare gemeinsam, so wie er etwas mit Professor Greene gemeinsam habe: „Greene und ich, wir sprechen von innerhalb
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