Die Zeitung - Ein Nachruf
der Gutenberg-Parenthese.“ Shakespeare war Theater-Mitbesitzer, Schauspieler und Autor, der existierende Stoffe aufnahm und, auch anhand der allabendlichen Publikumsreaktionen, weiterentwickelte, weitersprach – aber eben zunächst nicht weiterschrieb:
Romeo und Julia
wurde viele Jahre lang aufgeführt, ehe das Stück zum „Stück“ im Sinne eines kanonisierten, gedruckten Textes wurde.
Wenn die Theorie stimmt, dann besteht also die Norm in der oralen Kultur – die Printkultur der vergangenen 500 Jahre stellt die Abweichung von der Norm dar. Google, Facebook, Twitter und das iPad hätten dann mit der mündlichen Erzähl- und Theatertradition des späten Mittelalters mehr gemeinsam als mit Büchern, Zeitungen und Magazinen. Die Parallelen, die Pettitt und „diese Dänen“ herausarbeiten, sind schwer von der Hand zu weisen: Der Wahrheitsbegriff beispielsweise, der während des Druckzeitalters fein säuberlich zwischen Buchdeckeln aufbewahrt worden war, ist heute ähnlich fluid geworden, wie er es in der Vor-Gutenberg-Zeit gewesen ist.
Die Logik von Wissen und Kommunikation nach der Gutenberg-Paranthese folgt nicht fixierten Codices, sondern der Netzwerkstruktur von mittelalterlichen Stadtplänen wie jenem von Augsburg.
Die Quellen, aus denen wir unser Wissen beziehen, stellen sich nicht mehr als fixierte Indices und Codices dar, sondern als eine Art Gesprächsprozess. Der
Brockhaus
und die
Encyclopedia Britannica
sind nicht mehr die unverrückbaren Grundmauern des Wissensgebäudes, wir verlassen uns auf die sich ständig erweiternden und verändernden Informationen, die wir aus
Wikipedia
beziehen, ohne uns wirklich auf sie zu verlassen, weil wir wissen, dass etwas, das heute wahr ist, sich morgen als falsch herausstellen kann. Die Anordnung der Quellen, aus denen wir Informationen und Wissen beziehen, ähnelt in ihrer Struktur eher dem netzartigen Bauplan einer mittelalterlichen Stadt als der linearen Ordnung einer Bibliothek.
Die Grundfrage, die schon McLuhan – und zwar ebenfalls unter Bezugnahme auf Shakespeare und die Renaissance – mit seiner zum Sprichwort gewordenen Behauptung „The medium is the message“ angeschnitten hatte, nämlich ob neue Technologien nicht auch die Art und Struktur unseres Denkens ändern, wird hier noch einmal expliziter gestellt. Die lineare Wissensorganisation in Kategorien scheint ein typisches Merkmal zu sein, das die Gutenberg-Ära sowohl vom Mittelalter als auch von der digitalen Gegenwart unterscheidet. Im Mittelalter konnte ein Geflüster, das sich durch die Straßen und Plätze der Stadt verbreitete, das „allgemeine Wissen“ über Personen und Dinge verändern, heute wird die Struktur unseres Wissens von den jeweiligen Updates in der Software für unsere Google-Suchmaschinenoptimierung mitkonfiguriert. „Schwarmintelligenz“, „kollektives Wissen“, „Netzwerkdenken“: Begriffe, die sowohl die Zeit vor der Erfindung des Buchdrucks als auch unsere digitale Gegenwart in Abgrenzung zu den Prinzipien von Autorenschaft und Kanonbildung beschreiben, die sich in der Gutenberg-Ära herausgebildet haben.
Die alte Idee der „Restauration“
Die Idee, dass es sich bei den Auswirkungen der digitalen Revolution auf Wissen, Kommunikation und Medien um irgendeine Art von „Restauration“ handeln könnte, hat sich kontinuierlich entwickelt. Wie bereits erwähnt, hatte bereits Marshall McLuhan in der
Gutenberg-Galaxis
so eine Ahnung. Er sah die Bedrohung der Printwelt, die zu seiner Zeit durch Radio, Fernsehen und Film manifest geworden war, als eine Art Herstellung früherer, nämlich nicht-literaler Bedingungen. McLuhan meinte, wir hätten keine gröberen Probleme mit der Verarbeitung von nicht-literalen Erfahrungen, weil wir sie in unserer eigenen Kultur auf elektronische Weise wieder erschaffen hätten.
McLuhans Schüler Walter Ong hat diesen Weg weiterverfolgt und ist mit seinem Klassiker
Orality and Literacy. The Technologizing of the World
der bedeutendste Wegbereiter des „Restaurations“-Gedankens in der Beschreibung der digitalen Entwicklung. 4 Ong arbeitete die neue Bedeutung des gesprochenen Wortes in den Massenmedien Radio und Film im Gegensatz zu den Printmedien heraus und machte zugleich deutlich, dass es sich dabei nicht einfach nur um die Wiederherstellung des Zustandes von vor 500 Jahren handelte. Damals habe man es mit einer „primären Oralität“ zu tun gehabt, heute hingegen mit einer „sekundären Oralität“, die durch die technisch
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