Das dunkle Volk: Eishauch: Roman (Knaur TB) (German Edition)
1. Kapitel
D er Uhu saß in der Eiche.
Von meinem Fenster aus konnte ich den Vogel sehen. Er hockte im kahlen Geäst und versuchte sich vor dem Schnee zu schützen. Ich sehnte mich danach, mich zu ihm zu gesellen, meine Kleidung loszuwerden und mich in meine Eulengestalt zu verwandeln, um frei unter dem Wintermond dahinzufliegen, doch draußen war es kalt und unwirtlich, und Myst und ihr Volk versteckten sich im Wald und warteten auf uns.
Und irgendwo in ihren Nebeln und Schatten verborgen ist Grieve gefangen. Liebt er mich noch? Kann er das überhaupt noch? Und können wir ihn wirklich vor dem Blut, das in seinen Adern fließt, retten? Doch wie soll ich ihn gehen lassen, nun, da ich ihn gerade erst wiedergefunden habe?
Ich öffnete das Fenster, beugte mich hinaus und blickte in den Garten unter mir. Eine makellose weiße Schneedecke verhüllte den Rasen, und die Eiskristalle funkelten im Licht des fast vollen Mondes. Der Goldene Wald – oder der Spinnenwald, wie ich ihn nannte – leuchtete giftig grün, und seit ich nach New Forest zurückgekommen war, war es noch keine Nacht anders gewesen. Tausend Meilen und Jahre schienen mich von meiner vorherigen Existenz zu trennen, obwohl es erst wenige Wochen her war, dass ich sie aufgegeben hatte und in der Stadt angekommen war. Doch in dieser kurzen Zeit war mein Leben in jeder Hinsicht auf den Kopf gestellt worden.
Der Wind rief mich, und ich schloss die Augen und ließ mich von ihm streicheln. Die Eulen der Tätowierungen, die ich auf beiden Oberarmen trug – sie flogen vor einem mit einem Dolch durchstochenen Silbermond über den Himmel –, regten sich und versuchten mich zu locken. Ich zog Lederjacke und Handschuhe über, kletterte aus dem Fenster und vergewisserte mich, dass der Schnee, der sich auf den Dachschindeln abgelagert hatte, nicht rutschte, doch er war kompakt und gefroren. Mit dem Rücken am Fenster zog ich die Knie an, schlang meine Arme darum und machte mich gegen die Kälte klein.
Während ich in die große Eiche starrte, stieß der Uhu einen leisen Ruf aus, der mein Blut aufwallen ließ. Im vergangenen Monat hatte er mir beigebracht, wie man die Angst vor dem Fallen abschüttelte, wie man durch die endlose Nacht flog und auf einer Schwinge wendete, wie man Mäuse im Garten fing und immer – immer! – ein Auge auf den Wald hielt.
Du bist eine Uwilahsidhe. Du bist eine Magiegeborene. Hüte dich vor Myst, ermahnte er mich immer wieder. Die Königin des Indigo-Hofs will dich vernichten.
Ich hob eine Hand zum Gruß. Die Flocken küssten meine Hand, als der Uhu einen weiteren Ruf ausstieß, doch diesmal lag eine Warnung darin.
»Was ist denn?«, flüsterte ich. »Was willst du mir sagen?«
Ulean, mein Windelementar, legte mir eine sanfte Brise wie einen Mantel um die Schultern und antwortete anstelle des Vogels. Er hat Angst um dich. Der Wind bringt Geister mit, und die Schattenjäger sind ausgeschwärmt. Noch vor Morgengrauen wird es Tote geben.
Mehr Tote. Mehr Blut. Mein Magen brannte, als ich an die vier neuen Morde dachte, die allein in den vergangenen zwei Tagen geschehen waren. Ein Kind war darunter gewesen. Alle Opfer waren zerfetzt worden, das Fleisch bis auf die Knochen abgerissen.
Ich blickte zum Wald hinüber. Was hatte Myst heute vor? Wen jagte sie? Das Miststück war gierig und gnadenlos.
In den vergangenen Tagen hat es so viele Todesfälle gegeben. Die ganze Stadt ist gelähmt vor Angst, obwohl die Leute nicht einmal wissen, vor wem sie sich fürchten. Ich lehnte mich in den sanften Luftstrom, der mir signalisierte, dass Ulean mich in den Arm nahm. Sie wachte über mich, seit sie, als ich sechs Jahre alt gewesen war, durch ein Ritual an mich gebunden worden war. Lainule, die Feenkönigin von Schilf und Aue, hatte sie mir zum Geschenk gemacht.
Sie haben recht, sich zu fürchten. Myst wird nicht einfach so wieder verschwinden. Sie ist hier, um ihr Revier zu markieren und zu erobern. Sie will vernichten. Ulean peitschte eine Schicht Schnee auf und ließ die Flocken in einer Spirale um mich herumtanzen.
Ich blickte in mein Zimmer zur Uhr. Sieben Uhr abends. Noch zwei Stunden, bis wir uns mit Geoffrey treffen würden. Endlich, nach fünf Tagen eisernen Schweigens, hatte der Nordwest-Regent der Vampirnation uns zu sich zitiert. Fünf Tage nachdem wir unsere Freundin Peyton aus Mysts Klauen befreit hatten. Fünf Tage nachdem ich Grieve verloren hatte. Fünf Tage, in denen der Indigo-Hof die Stadt mit Terror überzogen und
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