Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
EUROPE NOW!
N ie ist so ernsthaft, ja leidenschaftlich wieder über Europa gestritten worden wie inmitten der derzeitigen Krise, von der alle wissen, dass es um mehr geht als nur eine Finanz-, Banken-, Schulden- oder Eurokrise: auf dem Spiel steht, was Europa nach 1945 und nach 1989, nach Krieg und Teilung, geworden ist, und es geht um die Frage, wie es weitergehen soll. Es gibt also doch eine europäische Öffentlichkeit, wenn auch ex negativo und unter dem Druck der Krise produziert. Es geht in den Debatten und Entscheidungen nicht mehr um ein »Experiment« oder ein »Projekt«, das man auch sein lassen kann, sondern um die Infragestellung und die Weiterentwicklung eines am Ende des 20. Jahrhunderts erreichten mehr oder weniger gelungenen Zusammenlebens und Zusammenspiels der Völker auf dem europäischen Kontinent. Kaum jemand konnte sich nach dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs vorstellen, mit welcher Härte neue Grenzen gezogen, neue Verwerfungen und Wanderungen ausgelöst werden würden, die den Bewohnern des Kontinents das Äußerste an Zurückhaltung und Selbstdisziplin abverlangen würden. Aber war eine Neubildung Europas nach allem, was hinter ihm lag, einfacher zu haben? Europa war nun nicht mehr nur das bequeme und schöne Zukunftsprojekt, sondern etwas, was auch mit Risiko, Opfern, Verzicht zu tun hatte. Dass Politik und politische Eliten hoffnungslos überfordert sind von einer Situation, die nur von Gesellschaften als ganzen bewältigt werden können, war von Anfang an klar. Niemand hat eine Zauberformel oder ein Rezept – es kann sie auch nicht geben. Und alle wissen, dass es nicht automatisch zu einem Happyend kommen wird. Was es aber gibt, ist eine Erfahrung, die unendlich kostbar ist: die hinter uns liegende Erfahrung der Krisenbewältigung nach 1989 im östlichen Europa. Ja, es gab den Absturz in den Bürgerkrieg in Jugoslawien, dem wir lange hilflos zusahen, es gab aber vor allem die Erfahrung von Millionen von Menschen, die nach dem Zusammenbruch des Systems von heute auf morgen aus ihrer Lebensbahn geworfen wurden und sich neu »aufstellen« mussten. Wenn der Übergang aus dem alten in den neuen Zustand nicht ohne Härten, aber im Großen und Ganzen ohne Gewalt und auf eine zivile Weise abgelaufen ist, dann weil Panikreaktionen und Ausbrüche von gesellschaftlicher Hysterie ausgeblieben sind und die Menschen trotz größter Bedrängnis die Nerven behalten haben. Nicht die utopische Vision, sondern ein Sich-irgendwie-Zurechtfinden in schier ausweglosen Situationen war der Schlüssel zum erfolgreichen Krisenmanagement nach 1989. Das östliche Europa hat eine erstaunliche Resistenz gegen Hysterie und eine erstaunliche Chaos- und Krisenbewältigungskompetenz an den Tag gelegt. Das Tag für Tag von den Bürgern praktizierte Sich-Durchwursteln hat mehr zur Bewältigung der Krise beigetragen als irgendwelche Visionen oder Lehrbuchrezepte. Improvisation war das Gebot der Stunde in einem Augenblick, da die vertrauten Routinen zusammenbrachen. Die molekularen Prozesse und Kriechströme, die Europa aus der Nachkriegsteilung herausführten, haben gezeigt, wie stark eigentlich dieses Europa von unten ist. Und so wird es auch jetzt sein, da auch im westlichen Europa die Abwicklung des alten Zustandes in Gang gekommen ist, und wo es – zugegebenermaßen – viel schwieriger werden wird, Abschied zu nehmen von den hohen Standards, die für selbstverständlich zu halten wir uns in einem langen Goldenen Zeitalter angewöhnt hatten. In Krisensituationen werden nicht nur Ängste mobilisiert, sondern auch Tugenden und Fähigkeiten gefordert, die in ruhigen Zeiten wenig beansprucht worden sind. Es geschehen Dinge, die in gewöhnlichen Zeiten undenkbar wären. Hic Rhodus, hic salta!
Einen Karlspreis für Eurolines!
Die Geschichte der Haupt- und Staatsaktionen wird nicht aufgehoben durch eine Geschichte von unten. Solche Oppositionen muten wie Spielchen aus der Vergangenheit an. Das haben wir hinter uns, denn wir wissen, dass die binären und dichotomischen Strukturen unzulässige Vereinfachungen sind. Wir wollen den Diskurs der Mächtigen nicht dekonstruieren und ein angeblich authentisches Anderes – das Volk, die Gesellschaft – beschwören. Kurz: Es gibt keinen Gegenpol, keinen archimedischen Punkt, von dem aus die Geschichte jetzt neu erzählt werden oder gar auf den Begriff gebracht werden könnte. Sie ist offen, und was ich anbieten kann, sind ein paar Blicke und Beobachtungen aus der Perspektive,
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