Die zerbrochene Uhr
Haselgebüsch und sprach gerade mit ungewohnter Heftigkeit über eines ihrer Lieblingsthemen, nämlich die Einrichtung einer Mädchenschule. Allerdings keiner, wie sie die alten Zisterzienserinnen geleitet hatten, in der die Mädchen nur lernten, was sie in Küche, Kirche und Nähstube brauchten, und selbst das nur notdürftig, sondern von einer richtigen Lateinschule, nur weniger verstaubt als das Johanneum, der gute Müller möge ihr verzeihen. Schließlich seien Mädchen um kein Deut dümmer und anspruchsloser als Knaben.
Rosina trat näher und entdeckte, daß halb verborgen hinter vorhängenden Zweigen noch eine vierte Gestalt bei den Damen stand. Mit Schrecken erkannte sie den jungen Mann im violetten Rock als den Maler, der im Salon der Domina gewesen war, als sie, mit nichts als einem schmutzigen Nachtgewand bekleidet, von Magda als Diebin hereingeschleppt worden war.
»Rosa, endlich«, sagte die Domina, die sich noch nicht an Rosinas richtigen Namen gewöhnt hatte, und lächelte wie ein gutgelaunter Fuchs. »Bevor die Tische leergegessen sind und du mit deiner Gesellschaft ein wie man flüstert recht verwegenes Singspiel aufführst, möchte ich eine Erinnerung an unser Abenteuer festhalten lassen. Das ist Meister Tulipan, ich hoffe, daß ihr euch nicht aneinander erinnert. Er wird uns gemeinsam malen, nur eine kleine Skizze, es geht ganz schnell. Jedenfalls hat er das versprochen, obwohl man in dieser Hinsicht auf seine Versprechungen nicht viel geben kann.«
Paul Tulipan parierte den leisen Tadel der stets ungeduldigen Ehrwürdigen Jungfrau mit einem kaum verhohlen spöttischen Lächeln. »Nicht Meister, Domina«, sagte er sanft, »ich bin noch in der Lehrzeit, wie Ihr sehr wohl wißt.«
»Glaubt Ihr, Ihr dürftet mich malen, wenn ich Euch nicht für einen Meister hielte? Aber nun gut, dann eben nur Tulipan. Doch nun greift zu Eurem Rötelstift und fangt endlich an. Ich will um nichts in der Welt dieses Singspiel versäumen, und ohne Rosa, Pardon, Rosina kann es gar nicht erst stattfinden.«
Augusta und Anne verabschiedeten sich, für etwas so Langweiliges wie eine Malersitzung war weder die eine noch die andere zu haben, und die Domina setzte sich auf einen Lehnstuhl, den einer der zahlreichen Söhne des Müllers für sie herangeschleppt hatte. Rosina, bestimmte sie, solle hinter ihr stehen, aber nicht zu weit, sie müsse recht gut im Bild erscheinen.
So packte Tulipan Zeichenpapier und Rötelstifte aus seiner schwarzsamtenen Tasche und begann die Ehrwürdige Jungfrau und die Komödiantin zu zeichnen, an die er sich als an das Mädchen der Domina ganz genau erinnerte. Er ließ sich Zeit. Daß es ganz schnell gehen würde, hatte sowieso niemand geglaubt .
Irgendwann, Rosina begann sich schon zu wundern, warum der Maler so lange für eine einfache Skizze brauchte, entdeckte sie hinter den Fliederhecken Melusine Nieburg und Melchior Bucher. Sie promenierten Arm in Arm, so wie sie es vielleicht bis vor wenigen Wochen nur im Domgarten gewagt hatten. Heute taten sie es ohne Scheu und sicher zum letztenmal in einem der Klostergärten von St. Johannis. Bucher hatte eine ehrenvolle Berufung zum Prorektor an die Lateinschule in Bremen angenommen. Im Oktober schon würde er Hamburg verlassen, und mit ihm seine ihm bis dahin frisch und – zugegeben – unziemlich eilig angetraute Ehefrau Melusine.
Es hatte Claes Herrmanns und Johann Samuel Müller eine halbe Nacht und den besten Portwein aus Claes’ Keller gekostet, Pastor Goeze als den Senior des Scholarchats dazu zu bringen, eine überzeugende, tatsächlich überzeugende Empfehlung für den ungewöhnlich befähigten Pädagogen nach Bremen zu schreiben. Das wußte Bucher nicht, er würde es auch nie erfahren. Fast niemand wußte, daß der Rektor und der neue Scholarch bei einer überraschenden Teeinladung der Domina auf diese formidable Idee gekommen waren. Bei der Plauderei mit dieser unerwartet friedfertigen alten Dame war ihnen ganz von selbst der kluge Gedanke gekommen, daß es für Bucher und auch für Mademoiselle Nieburg nach dieser unerfreulichen Geschichte angenehm wäre, in eine andere Stadt zu ziehen, und daß ein wenig heimliche Unterstützung nur recht und billig wäre.
»Nun?« fragte die Domina in Rosinas Gedanken. »Ist ›ganz schnell‹ endlich erreicht, Tulipan?«
»Sofort, Domina.« Er sah seine Modelle noch einmal genau an, blickte auf sein Zeichenblatt, besserte hier und da ein wenig nach und lächelte sie mit diesem beunruhigend
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