Die zerbrochene Uhr
Magda war gleich nach Sonnenaufgang zur Mühle hinausgefahren, zwei Küchenmädchen, den Klosterknecht und Kisten und Körbe voller vorbereiteter Köstlichkeiten auf dem Wagen. Für frisches Gemüse würde die Müllerin sorgen, verschiedenste Sorten Geflügel, gestern gerupft und ausgenommen, warteten wie Ochsenbraten, Fische, Kannen voller Sahne und Tonschüsseln mit Butter im Eishaus am Fluß. Im Schatten uralter Eichen bogen sich die „fische unter Schalen und Schüsseln voller Köstlichkeiten, die nicht nur die Damen Bauer und van Witten alle guten Vorsätze, ganz gewiß nur von diesem und jenem ein wenig zu kosten, umgehend vergessen ließen: eisgekühltes Konfekt aus Schokolade, Buttercreme, Marzipan und Konfitüren, Butterbrezeln, Makronentorten, Apfelkuchen mit Zimt- und Mandelstreuseln, Birnenpudding und Quittencreme, Pflaumen- und Kornelkirschenkompott, Gelees aus Ananas und Trauben, und dann die Platten mit dem Krebsstrudel, Hummer in Aspik, mit leichten Weißbrot- und deftigen Schwarzbrotschnitten, belegt mit Kaviar, Eiern auf Senfbutter oder geräuchertem Lachs, mit Pökelzunge, Beefsteak oder feinen Käsen aus Frankreich. Es folgten Pasteten von Rebhuhn, Auerhahn und Gänselebern, Platten mit Schinken und gesottenem Gemüse, kaltem Hirsch- und Kalbsbraten, verschiedensten Würsten. Auf einem steinernen Ofen köchelten in zwei großen Töpfen eine Bouillon von Hühnern und Tauben und eine Kartoffelsuppe auf englische Art. Der jüngste Sohn des Müllers schwitzte in der Mitte eines Buchsbaumrondells und drehte über einem nur mehr glosenden Feuer ein Ferkel am Spieß, von dessen bräunender Schwarte zischend Fett in die Glut tropfte.
Die Konventualinnen des St.-Johannis-Stifts wußten von jeher, daß die Lobpreisung Gottes auch darin bestand, sich an den köstlichsten seiner Gaben gütlich zu tun. Zumindest bei feierlichen Anlässen und ganz besonders, wenn sie die Mitglieder des Rats und andere respektable Gäste bewirteten.
An dem Tisch mit den Limonaden, dem Punsch und den Obstweinen (wenn Rosina den Inhalt der Gläser richtig beurteilte, war allerdings auch ein schwerer goldener Bordeaux darunter) standen Claes Herrmanns, Rektor Müller und Monsieur Horstedt mit einem etwa vierzigjährigen Mann, den Rosina noch nie gesehen hatte. Die hohe Stirn über dem viereckigen Gesicht, die schlichte dunkelbraune Perücke verrieten wie die Ruhe in seinen Augen Geduld und Nachdenklichkeit. Samuel Heinicke war Soldat gewesen und Sekretär des Grafen Schimmelmann, er spielte Orgel und Violine, sprach Latein und Französisch. Nun war er Lehrer und Küster von Eppendorf. Pastor Granau hätte lieber seinen Schwager auf diesem Posten gesehen, anstelle dieses äußerst unbequemen Menschen mit einem eigenen Kopf voll wahrhaft abstrusen Ideen. Es hieß, er habe mit Freimaurern, Theaterleuten und anderen Freigeistern enge Verbindungen, und in der Dorfschule mache er alles anders als seine Vorgänger. Das war zuviel für einen einfachen Küster, auch wenn der zugleich Kantor und Dorfschullehrer war. Die Bauern hatten ihn zuerst auch nicht gemocht. Nachdem er begann, seine liebste Idee in die Tat umzusetzen, wurden sie immerhin neugierig. Monsieur Heinicke hatte sich des taubstummen Kindes des Eppendorfer Müllers angenommen, das nun – es war wirklich ein Wunder – schon erste Worte und sogar ganze Sätze sprach. Pastor Granau donnerte zwar von der Kanzel, dies sei ein Frevel gegen Gottes allmächtigen Plan, doch das fanden der Müller und viele andere in den umliegenden Dörfern nicht. Vor allem, seit Hauptpastor Goeze von der Hamburger Katharinenkirche die ungewöhnliche Schularbeit Heinickes mit Wohlwollen bedachte.
»Rosina!« Claes Herrmanns winkte ihr vergnügt mit dem Weinglas zu. »Wenn Ihr Muto irgendwo seht, würdet Ihr ihn bitte zu uns schicken? Hier ist jemand, der ihn unbedingt kennenlernen möchte.«
Und schon hatte er sich wieder abgewandt und fuhr fort, nun ganz der Scholarch, sich von Heinicke seine Lehrmethoden erklären zu lassen.
Im Halbschatten einer Ulme hielt Madame Horstedt hof. Anders war es nicht zu bezeichnen, denn sie thronte dort wahrhaftig wie eine Königin auf einer gepolsterten Bank, umgeben von den meisten der Stiftsdamen auf zierlichen Stühlen. Nur Mademoiselle Puttbau saß mit krummem Rücken neben ihr, weil sie als Älteste – sie war am vergangenen Karfreitag dreiundachtzig geworden – das Vorrecht auf den besten Platz hatte. Simons Mutter erzählte, gewiß zum fünftenmal, die
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