Die Zuflucht
plötzlich direkt vor uns ein Freak aus dem Unterholz auftauchte. Er war verletzt und presste eine Hand auf die blutende Wunde an seiner Seite. Ich bohrte ihm meinen Dolch in die Kehle. Er starb schnell und lautlos, bevor er uns verraten konnte. Ich hatte verhindern müssen, dass er es bis ins Dorf schaffte, und trotzdem beunruhigte mich meine eigene Kaltblütigkeit. Der Freak, der in unserem Lager gewesen war, hätte viele von uns töten können, aber er hatte es nicht getan. Warum? Ich hatte mir eingeredet, es sei alles Teil ihres Plans gewesen, uns einzuschüchtern, aber mittlerweile zweifelte ich an allem, was ich einmal über diese Kreaturen zu wissen geglaubt hatte.
Lautlos versteckten wir die Leiche und rannten weiter, bis wir sicher sein konnten, dass unsere Stimmen weder in dem Freak-Dorf noch in unserem Lager zu hören waren. Ich blieb zitternd stehen. Es war entsetzlich. Freaks, die Kinder hatten, die sich fortpflanzten. Ich hatte Mühe, mein Abendessen bei mir zu behalten.
» Was zum Teufel?«, fluchte Pirscher. Die neuen Schimpfworte hatte er schnell aufgeschnappt.
» Nie und nimmer werden sie uns das glauben«, sagte Bleich und fuhr sich mit bebenden Händen übers Gesicht. » Es ist fast wie in Nassau.«
Ich blickte unsicher zurück zwischen die Bäume. » Draufgänger wird uns glauben. Er weiß, dass wir ihn nicht belügen. Was wir dann tun sollen, weiß ich allerdings auch nicht.«
Es war Zeit, zum Lager zurückzukehren und uns den Konsequenzen unserer eigenmächtigen Erkundungsmission zu stellen. Ich hoffte nur, die Warnung kam rechtzeitig, um noch etwas zu bewirken.
ENTHÜLLUNGEN
Erst am Nachmittag hatte ich Gelegenheit, Draufgänger von den Erkenntnissen der letzten Nacht zu erzählen. Ich hatte nicht schlafen können, und das merkte ich deutlich. Meine Augen brannten, mein Kopf schmerzte, und ich konnte kaum etwas essen. Als sich die Sonne allmählich auf den Horizont zubewegte, sah ich Draufgänger ein Stück abseits von den Männern stehen. Er beobachtete, wie Pirscher und Bleich sie trainierten. Ich ging zu ihm. » Ich muss mit dir reden.«
Draufgänger wirkte erschöpft, als wäre die Verantwortung, die allein auf seinen Schultern lastete, zu viel für ihn. Mit einer Mischung aus Neugier und Verzweiflung blickte er mich über die Schulter hinweg an. » Wieso habe ich jedes Mal, wenn du zu mir kommst, das Gefühl, dass mein Leben gleich wieder ein Stückchen komplizierter sein wird?«
Sein gutmütiger Ton milderte die Schärfe der Worte etwas ab, also sprach ich weiter. » Vielleicht kennst du mich mittlerweile gut genug?«
Er lachte. » Ziemlich viel das alles, nicht wahr?«
Ich konnte mir vorstellen, was er meinte: Die Felder zu bewachen war schwierig genug, und wir waren so wenige. Unsere geringe Anzahl verstärkte die Anspannung noch. » Bist du wütend, weil sie uns nicht mehr Leute mitgeschickt haben?«
Er schüttelte den Kopf. » Dann hätte ich nur noch mehr Männer hier, die herumjammern, weil sie auf dem Boden schlafen müssen. Das ist nichts für mich.«
» Mir scheint, du machst deine Sache sehr gut.« Noch nie hatte ein Älterer mich wie eine Gleichgestellte behandelt, und das gefiel mir. Sehr sogar.
Er seufzte. » Ich bin kein Anführer. Auf der Handelsroute fahre ich den ersten Wagen in der Karawane, und manchmal fahre ich auch allein. Aber das ist nicht dasselbe…«
» Warum hast du dich dann freiwillig für die Aufgabe gemeldet?«
Er sah mich von Kopf bis Fuß an. Mit einem Mal war er vollkommen ernst. » Seit du hier bist, schäme ich mich in Grund und Boden.«
» Wegen mir ?«
» Natürlich nicht. Wegen der ganzen verdammten Stadt, Mädchen.«
Ich war so überrascht, dass ich einen Moment lang nicht wusste, was ich sagen sollte. » Hältst du wirklich so große Stücke auf mich?«
» Du kannst wohl nie genug Komplimente kriegen, was? Aber noch mehr gibt’s nicht.«
Was in aller Welt sind Komplimente?
» Trotzdem ist das nicht der Grund, warum du zu mir gekommen bist. Also?«
Mit so wenig Worten wie möglich erklärte ich ihm, was wir in der Nacht entdeckt hatten. Als ich fertig war, fuhr sich Draufgänger mit der Hand durch das graue Haar und blickte hinauf in den Himmel. Es war ein warmer Tag, und nicht eine einzige Wolke trübte die Sonne. Regen und Gewitter hätten wahrscheinlich besser zu den Nachrichten gepasst, die ich ihm soeben übermittelt hatte.
» Gut«, sagte er schließlich. » Für den Moment werde ich mal vergessen, dass ihr eure
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