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Die Zuflucht

Die Zuflucht

Titel: Die Zuflucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Aguirre
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zurückkehrten, fiel mir auf, dass er allmählich aussah wie eine richtige Befestigungsanlage. Wenn die Männer nicht trainierten oder auf Patrouille waren, ließ Draufgänger sie an der Mauer arbeiten, die mittlerweile das gesamte Lager samt Zelten, Turm und Übungsplatz umschloss. Nicht schlecht für die kurze Zeit.
    Die Männer blickten auf, als ich an ihnen vorbeiging, aber die meisten hatten sich mittlerweile an mich gewöhnt und gaben zumindest keine Kommentare mehr ab oder machten abfällige Gesten. Anscheinend hatte Bleichs Beschützerinstinkt doch etwas bewirkt. In ihren Augen mochte er noch ein Junge sein, aber sie wussten, in einem Kampf hatten sie nicht den Hauch einer Chance gegen ihn. Mir war es ohnehin egal. Die Kommentare der Mädchen in der Schule setzten mir da schon mehr zu.
    Hobbs erstattete Draufgänger Bericht, und unser Anführer nickte nachdenklich. » Ich werde einen Boten schicken, damit die Pflanzer so schnell wie möglich herkommen.«
    » Ich bin froh, dass sie sich um die Ernte kümmern und nicht ich«, murmelte ich.
    Draufgänger grinste mich an. » Ich auch. Wie mir scheint, bist du besser darin, Dinge in Stücke zu hauen, als sie zum Wachsen zu bringen.«
    Wenig später rief er uns alle zusammen. » Wie versprochen, können ab morgen die Ersten für einen Tag zurück in die Stadt. Wir werden Lose ziehen, welcher Trupp anfängt. Wer geht, müsst ihr unter euch ausmachen. Es dürfen immer nur zwei sein, verstanden?«
    Draufgängers Ankündigung sorgte für regelrechte Begeisterungsstürme. Viele der Männer hatten Familie, und sie waren es nicht gewohnt, so lange von zu Hause weg zu sein. Ich sehnte mich zwar nach Tegan und meinen Pflegeeltern, aber ich konnte warten. Doch zu meiner Überraschung wurde unser Trupp schon für den übernächsten Tag ausgelost. Glücklicherweise waren Hobbs und Frank bei den anderen so beliebt, dass sie es uns nicht allzu übel nahmen.
    Kurz vor Einbruch der Dunkelheit kehrte die letzte Patrouille mit einer willkommenen Zufallsbeute zurück: Sie hatten einen Hirsch geschossen. Er war bereits ausgenommen und in kleinere Stücke zerlegt, und die Wartezeit, bis das Fleisch fertig gebraten war, nahmen alle gerne in Kauf. Es war eine erfreuliche Abwechslung zu dem ständigen Zwieback mit Trockenfleisch.
    Nachdem ich an der Reihe war, ging ich mit meinem vollen Teller hinüber zu Frank, der den Braten mit sichtlichem Genuss verschlang. Eine Weile aßen wir schweigend, und ich versuchte zu ignorieren, dass Pirscher und Bleich am anderen Ende des Lagers miteinander stritten. Ich hörte zwar nicht, was gesprochen wurde, aber sie standen sich mit geballten Fäusten gegenüber und schauten ab und zu in meine Richtung. Also ging es wieder mal um mich. Ist nicht meine Sache, sagte ich mir, also werde ich mich auch nicht einmischen.
    » Was wirst du tun, wenn du in der Stadt bist?«, fragte Frank unvermittelt.
    » Baden«, antwortete ich.
    Er lachte, als hätte ich gerade einen Witz gemacht. » Ich werde so viel Kuchen in mich reinstopfen, wie ich nur kann.«
    Ich konnte ihn gut verstehen, denn hier draußen gab es nichts Süßes. Er schwärmte, was für eine hervorragende Köchin seine Mutter war, aber ich hörte nur mit halbem Ohr zu und beobachtete stattdessen die Jungs.
    Bleich fuhr herum und reihte sich in die Essensschlange ein. Pirscher folgte ihm mit säuerlichem Gesicht. Seine Kopfhaltung sagte mir, dass er geladen war. Er war nicht begeistert gewesen von unserem Entschluss, fürs Erste nichts zu unternehmen, und ich konnte seine Verärgerung gut nachvollziehen. Die Jägerin in mir wollte die Bedrohung so schnell wie möglich vernichten, aber ich respektierte Draufgängers Befehle.
    » Ist der Platz hier frei?«
    Die Frage kam von jemandem, aus dessen Mund ich sie am wenigsten erwartet hätte: Gary Miles. Wir waren schon zweimal aneinandergeraten– einmal, als er mich beleidigt hatte, und das andere Mal, als er während seiner Wachschicht eingeschlafen war–, und seitdem war er mir aus dem Weg gegangen. Mit der langen spitzen Nase und dem so gut wie nicht vorhandenen Kinn sah sein Gesicht aus wie das einer Ratte. Graues Haar hing ihm in dünnen Strähnen bis auf die Schultern, und er stank wie ein Eimer Erbrochenes. Wegen der mangelnden Waschmöglichkeiten rochen wir alle nicht besonders gut, aber Miles schien sich nicht einmal notdürftig mit Wasser abzuspritzen. Ich wollte nicht, dass er sich zu uns setzte, sah aber keine Möglichkeit, es zu verhindern, ohne

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