Die Zuflucht
nach und warf mir einen verstohlenen Blick zu. » Wir könnten ihn in das Freak-Dorf bringen. Als Geschenk sozusagen.«
» Klingt verlockend. Was hast du vorhin mit Pirscher besprochen?«
Bleich zuckte zusammen und starrte verlegen auf seinen Teller. » Du hast es mitbekommen?«
» Das ganze Lager hat es mitbekommen.« Ich stieß ihm sanft mit dem Ellbogen in die Rippen. » Komm schon, erzähl’s mir.«
» Ich hab ihm gesagt, er soll aufhören, dich anzustarren wie ein ausgehungerter Wolf. So ungefähr.«
» Das alleinige Recht, mich zu küssen, genügt dir also nicht. Was spielt es schon für eine Rolle, wie er mich ansieht?«
Ein blasses Rot breitete sich über Bleichs kantige Wangenknochen aus, und ich musste mich zurückhalten, ihm nicht diese wunderbaren dunklen Haarsträhnen aus dem Gesicht zu streichen.
» Wenn du mich so fragst…«, sagte er und beugte sich ganz dicht an mein Ohr. » Ich will endlich wieder mit dir allein sein.«
Seine Worte entzündeten sofort ein Feuer in mir, und um ein Haar hätte ich mir an die Lippen gefasst, um die Erinnerung an unsere letzten gemeinsamen Stunden wachzurufen. Ich wünschte mir, wir hätten die vergangene Nacht besser genutzt, aber Pirscher war die ganze Zeit über dabei gewesen, und ich wollte es nicht noch schlimmer für ihn machen, als es ohnehin schon war. Nur weil ich ihn zurückgewiesen hatte, musste ich nicht auch noch Salz in seine Wunden reiben.
Mir wurde so heiß, als könnte ich den Wachturm mit einer bloßen Berührung in Brand stecken. » Nächste Woche sind wir in Erlösung. Dort können wir tun, was immer wir wollen.«
Sein Blick sagte mir, dass er es kaum erwarten konnte.
ERHOLUNG
Die nächste Woche verging vergleichsweise ruhig, aber Gary Miles’ Feindseligkeit war deutlich zu spüren. Er und seine verbitterten Kumpane beobachteten mich die ganze Zeit. Sie überschritten nie eine Grenze, weshalb ich mich bei Draufgänger nicht über ihr Verhalten beschweren konnte, aber sie ließen keinen Zweifel daran, dass sie mich hassten. Idiotisch. Erlösung hatte auch so schon genug Probleme, da brauchten wir nicht noch unnötigen Ärger wie diesen. Immer wieder tastete ich nach meiner Karte, um mich zu vergewissern, dass sie noch da war. Solange ich sie hatte, konnte mir nichts passieren, hatte es in der Enklave immer geheißen. Leider war ich nicht mehr sicher, wie viel ich von dem, was ich dort gelernt hatte, noch glauben sollte.
Unser Namenszeichen war wie ein Zauber. Die Balgpfleger sagten, sie wären ein Teil unserer Seele– eine verwirrende Vorstellung, denn sie bedeutete, dass Pirscher und alle, die kein solches Zeichen hatten, entweder seelen- oder schutzlos waren. Oder beides. Aber vielleicht war das auch nur eine Legende, die der Worthüter sich ausgedacht hatte.
Die ersten Zweiergruppen waren ohne Zwischenfälle von ihrem Erholungsaufenthalt zurückgekehrt, und jetzt waren wir an der Reihe. Unser Trupp beschloss, Bleich und mich als Erste gehen zu lassen. Es schien beinahe zu schön, um wahr zu sein, und wenn ich nicht so aufgeregt gewesen wäre, hätte ich mich dafür geschämt, denn Frank und Hobbs zogen uns ständig auf. Ich fand es klug von Draufgänger, zuerst die Reihenfolge der Trupps auszulosen und die weitere Entscheidung dann uns zu überlassen. So gab er uns das Gefühl, wenigstens ein bisschen Kontrolle über die Situation zu haben. Er mochte sich selbst für keinen guten Anführer halten, aber meiner Meinung nach machte er seine Sache hervorragend.
Bevor wir gingen, zahlte Draufgänger uns aus. Es war das erste Mal, dass ich selbst welche von diesen kleinen Holzscheiben bekam. Wir hatten sie für unsere Arbeit verdient, und in der Stadt konnten wir sie gegen andere Dinge eintauschen. Es war ein wunderbares Gefühl, so selbstbestimmt.
Nachdem die Letzten aus der anderen Gruppe mit Geschenken und Briefen aus Erlösung zurückgekehrt waren, machten wir uns auf den Weg. Es war nicht ganz ungefährlich, denn unterwegs könnten uns Freaks auflauern, aber Bleich und ich waren gute Läufer. Wenn wir es nicht mit ihnen aufnehmen konnten, würden wir unser Heil eben in der Flucht suchen. Bleich rannte in halsbrecherischem Tempo los, und ich musste an unseren Lauf nach Nassau denken.
» Glaubst du, deine Pflegeeltern nehmen mich noch einmal bei sich auf?«, fragte er keuchend.
Ich atmete durch die Nase, um nicht so schnell außer Atem zu geraten. » Sie haben gesagt, du wärst jederzeit willkommen.«
» Das muss nicht unbedingt
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