Die Zuflucht der Drachen - Roman
»Hast du das schon öfter gemacht?«, fragte sie mit angespannter Stimme.
Seth wusste, dass er sie jetzt eigentlich beschwichtigen sollte. Aber wenn jemand so wütend auf ihn war, machte ihn das nur trotzig, und mochte sein Gegenüber noch so sehr im Recht sein. »Stell dir mal vor: Ich schleiche mich zum allerersten und einzigen Mal in dein Zimmer, und ausgerechnet an dem Tag kommst du früher nach Hause. Wenn das mal kein saumäßiges Pech ist!«
»Ich weiß, dass das für dich alles nur ein Riesenwitz ist. Dass für dich keine Regeln gelten. Aber ich werde dir das nicht durchgehen lassen.«
Er warf das Tagebuch auf ihr Bett. »Beruhig dich. Es ist ja nicht so, als könnte ich es lesen.«
Kendra schnaubte. »Es überrascht mich, dass es überhaupt irgendetwas gibt, das du freiwillig lesen würdest.«
»Weißt du, was ich gerne lese? Liebesbriefe. Das ist meine Lieblingslektüre.«
Kendra bebte vor Zorn, und Seth fiel auf, wie ihr Blick kurz hinüber zum Bett schweifte. Er musste sich ordentlich zusammenreißen, um nicht zu grinsen. Was war heute bloß los mit ihr? Normalerweise war sie schlauer. Und weniger wütend. »Raus«, tobte sie. »Warte nur, bis Mom und Dad nach Hause kommen.«
»Du willst Mom und Dad da mit reinziehen? Hast du vor, ihnen von Gavins Briefen und von deinem geheimen Fabelheimtagebuch zu erzählen? Lass dir ein Gehirn wachsen.«
Mit vor Wut verzerrtem Gesicht warf sich Kendra auf ihn. Seth war größer als seine Schwester, aber auch nicht viel, und nun taumelte er zurück und musste wilde Boxhiebe abwehren. Was war nur in sie gefahren? Sie schlug mit geballten Fäusten nach seinem Gesicht! Als sie noch kleiner gewesen waren, hatten sie oft miteinander gerauft, aber nie hatte sie sich derart auf ihn gestürzt. Er wollte gar nicht erst versuchen, sie festzuhalten oder wegzustoßen, denn das würde sie nur noch mehr in Rage bringen. Stattdessen wehrte er den Ansturm ab, so gut er konnte, bis er nahe genug an der Tür war, um aus dem Zimmer zu eilen.
Glücklicherweise folgte ihm Kendra nicht hinaus auf den Flur. Sie blieb mit grimmigem Blick in der Tür stehen, die Hände an den Türrahmen gekrallt, als versuche sie, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Von unten kam das Geräusch der automatischen Garagentür, die rumpelnd aufschwang, und Kendras Gesichtsausdruck veränderte sich von wütend zu besorgt, vielleicht sogar schuldbewusst. »Halt dich von meinem Zimmer fern«, sagte sie wie benommen und schloss die Tür.
In seinem eigenen Zimmer angekommen, begutachtete Seth die blauen Flecken, die sich auf seinen Unterarmen bildeten. Irgendetwas stimmte mit seiner Schwester nicht. Hatte sie Ärger in der Schule? Bekam sie in irgendeinem Fach eine Zwei? Vielleicht gab es ja schlechte Neuigkeiten von Gavin. Was immer die Ursache war, er musste sie für die nächsten Tage unbedingt mit Samthandschuhen anfassen. Offensichtlich hatte sie sich über irgendetwas so sehr aufgeregt, dass ihre Persönlichkeit völlig verändert war.
Spät in der Nacht wurde Seth von einem sanften Klopfen am Fenster geweckt. Blinzelnd richtete er sich auf und tastete nach seinem Digitalwecker – drei Uhr siebzehn. Das einzige Licht im Raum kam von der Anzeige des Weckers und vom Mondschein, der sanft schimmernd durch die Vorhänge fiel. Hatte er wirklich ein Klopfen gehört? Er ließ sich zurück ins Kissen fallen, rollte sich zusammen und kuschelte sich wieder in die Decke. Doch bevor der Schlaf ihn von neuem einlullen konnte, wiederholte sich das Klopfen, so leise, dass es auch nur ein winziger Zweig an einem Ast hätte sein können, der in der sanften Brise über die Fensterscheibe strich. Nur dass in der Nähe seines Fensters kein Baum war.
Die Erkenntnis, dass das Klopfen keine Einbildung gewesen war, machte ihn mit einem Mal hellwach. Seth schlüpfte aus dem Bett und ging hinüber zum Fenster. Als er den Vorhang beiseitezog, entdeckte er Warren, der auf dem schmalen Sims hinter der Scheibe hockte und etwas mitgenommen aussah. Das Fliegengitter hatte er bereits weggeschoben.
Seth hob die Hand, um das Fenster zu entriegeln, doch er zögerte. Er hatte sich schon einmal ziemlich in die Nesseln gesetzt, weil er leichtsinnig ein Fenster geöffnet hatte. Immerhin gab es magische Geschöpfe, die sich mittels Illusionen perfekt tarnen konnten.
Warren nahm sein Zögern mit einem Nicken zur Kenntnis und deutete auf die Straße.
Seth presste die Wange an die kühle Scheibe und konnte neben einem der Autos, mit
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