Die Zunge Europas
darin, dass es kein Geheimnis gibt.
Was soll’s. Endlich brachte Fantomas meine Getränke und in einem Aufwasch auch noch Esthers Bestellung (großes Frühstück). Seine Bewegungen waren noch langsamer als sonst. Bald würde er mitten im
Move
einfrieren (freeze) und in tausend Stücke zerbersten, wie der Terminator 2 in «Terminator 2», wo der Terminator 2 im Stahlwerk schockgefrostet wird und Arnold Schwarzenegger (Terminator 1)ihn in tausend winzige Metallstücke schießt. Im Stahlwerk herrscht eine ungeheure Hitze. Die winzigen Metallstücke tauen auf, fließen rasend schnell in kleinen Pfützen zusammen, und die vielen kleinen Pfützen vereinen sich zu einer großen. Aus ihr erhebt sich: der Terminator 2!
Esther legte ihre Zeitung beiseite und begutachtete die Leckereien, um sich zu vergewissern, dass auch ja nichts fehlt: Croissant, Baguettebrötchen, Mehrkornbrötchen, gekochtes Ei, drei Sorten Aufschnitt, Konfitüre, Butter, Kaffee. Alles da, kein Grund zur Reklamation, schade eigentlich. Gern hätte sie sich beschwert, das sah man ihr richtig an, sie lässt sich nämlich kein X für ein U vormachen und die Butter vom Brot nehmen erst recht nicht, und ihre Rechte kennt sie auch und scheut zur Not auch nicht den Rechtsweg. Als Erstes waren Croissant und Ei dran. Croissant, Ei, Ei, Croissant, eine quasi ausschließlich aus Cholesterin bestehende Mahlzeit, die den Körper lähmt, statt ihm Energie zuzuführen. Eier sind noch minderwertiger als Fischstäbchen, nicht umsonst gelten sie in allen ernstzunehmenden Religionen als Symbol des Todes. Der Gott des Eis bringt Missernten und Plagen über die Menschen. Noch weiter unten, auf der alleruntersten Stufe der Nahrungskette, stehen übrigens Croissants.
Mit Messer und Plastiklöffel schälte sie bedächtig ein Stück Ei aus dem Eierbecher, legte es auf den Teller und biss in das Croissant. Dann schob sie blitzartig den vorbereiteten Eihappen nach. So was hatte ich auch noch nicht gesehen. Danach passierte erst mal gar nichts. Break. Strike. Regungslos wie ein Reptil, das sich, seiner Beute sicher, erst einmal verschnauft.
Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig.
Ich konnte den Blick nicht abwenden. Nun mach doch, kauen, Mädchen! Ein Wahnsinn schon wieder alles. Endlich setzte sich ihr Mund in Bewegung. Zerkleinern, zersetzen, vermengen, vermischen, durchwalken, begleitet von leisen Schnalz-, Schluck-, Einspeichel- und Schnoddergeräuschen. Fünfzig Mal, bestimmt fünfzig Mal kaute sie auf dem weichen Quatsch herum! Bitte, bitte, weg mit dem Zeug! Dann schluckte sie endlich runter. Etwas in mir entspannte sich. Oder sackte zusammen. Eine Brise Croissant-Ei-Dunst wehte herüber. Sie hob den Blick und schaute mich an, triumphierend, als wäre sie sich des Belästigungspotenzials ihrer Unarten bewusst. Zäh verteidigte sie ihren schrecklichen Alltag: Wenn hier irgendjemandem irgendwas nicht passt, soll er sich gefälligst woanders hinsetzen!
Für einen Moment schloss ich die Augen. Von einem anderen Tisch wehte ein Gespräch herüber. Ein Mann berichtet seiner Frau umständlich von einem Kinobesuch, die Frau langweilt sich, wird ungeduldig, traut sich jedoch nicht, ihm offen ins Wort zu fallen. Sie legt unter die Rede ihres Mannes einen Paralleltext, sucht Lücken, in die sie leise hineinspricht.
Mann: «Und die Pinguinweibchen schwimmen bzw.
Frau:
… …… …… …… …
die Weibchen, nicht die Männchen,
gehen, oder manchmal robben sie ja auch zwanzig Tages-
… … … … … … … … … … …
ja, kopp heister
… …… …… …
ohne Pause
märsche, um sich dort vollzufressen und gleich wieder
was? Ganz ohne Pause
… …… …… …… …… …… …… …… ……
zurückzuschwimmen, und die Männchen stehen da
oder eben zu robben
… …… …… …… ……
während die Weibchen
zu Tausenden, was sag ich, Abertausenden, ganz dicht
Nahrung organisieren
… …… …… …
Zigtausenden
… … … … … …
gedrängt und passen auf die Eier auf, wie im Winterschlaf,
… …… ……
umgekehrt eben wie bei den Menschen
… …… …… ……
und Sturm und Eis halten die
… …… …… ……
macht denen nix aus
So geht das weiter. Der Mann hört nicht auf. Vielleicht ist das auch seine Rache für entgangene Lebensfreude. Ich öffnete die Augen.
Esther
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