Die Zunge Europas
aß zeitlupenhaft, wie es zeitlupenhafter nicht ging. Langsame Esser machen aggressiv, da können sich alle Ernährungswissenschaftler auf der ganzen Welt tausendmal darüber einig sein, dass ordentlich Kauen gesund ist, die klügere Ernährung, weil: Der Magen hat keine Zähne. Zähne vielleicht nicht, dafür aber Magensäure. Der Mensch ist von Natur aus nämlich ein Schlinger, Stichwort Mangelsituationen. Vor aus evolutionärer Sicht lächerlich kurzer Zeit hatten die Menschen nichts, aber auch gar nichts zu beißen außer vielleicht ein paar wilden Beeren oder zermanschtem Fallobst oder toten Insekten. Und wenn alle Jubeljahre und unter hohem Blutzoll (gutes Wort) ein schönes Stück Wildbret auf dem Grillspieß landete, hieß es reinhauen, aber zügig, bevor Meister Petz kam und den Braten einkassierte. Damals wäre man mit «Ratschlägen» von selbsternannten Ernährungspäpsten nicht weit gekommen: Fünf bis zehn unendlich kleine Mahlzeiten, in regelmäßigen Abständen
bewusst
genossen und sorgsam gekaut, um den gottverdammten Blutzuckerspiegel konstant zu halten. Und am Gürtel baumelt ein Fünf-Liter-Kanisterstilles Wasser mit Saugschlauch, an dem man nuckeln soll wie ein Kleinkind. Schon mal was von Wasserödem gehört? Oder Durst? (Ein Signal des Körpers, dass er Flüssigkeit benötigt.) Egal. Esther mit ihrem abartig langsamen Gemampfe hätte unter
natürlichen
Bedingungen keine Chance.
Ich rühre im Kaffee. Rühr, rühr, plinker, plinker, schab, schab. Ich muss mich schon sehr langweilen, um im Kaffee herumzurühren. Ich rühre immer heftiger, wie ein Verrückter, und vor lauter irrem Gerühre fällt der Kaffeekeks von der Untertasse und landet auf dem Boden. Als ich mich nach vorn beuge, um ihn aufzuheben, leistet mein Bauch Widerstand, genauer gesagt die Ringe, aus denen er besteht. Überall liest man, dass Männer dreihundertmal oder noch häufiger am Tag an Sex denken. Das mag sein, aber ich denke bestimmt ebenso oft an meinen Bauch. Richtig dick bin ich nicht, aber auf dem Weg dorthin, achtundachtzig Kilo bei eins einundachtzig, in der offiziellen Sprachreglung heißt das
leicht übergewichtig
, jetzt aber aufpassen! Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser wäre, in einem Durchmarsch richtig fett zu werden, dann hat man’s hinter sich. Das eigene Haus unbewohnbar machen. Na, sicher kein Problem, derzeit scheue ich noch die Konsequenzen. Wenn ich mich nach vorn beuge, spüre ich drei kleinere Subschwarten, die in die Hauptschwarte (Big Wave) fließen. Fettringe sind Jahresringen von Bäumen vergleichbar. Erfahrene Gerichtsmediziner vermögen nach einem flüchtigen Blick exakt das Lebensalter zu bestimmen. Bei mir hat sich die vierte Subschwarteungefähr zur Hälfte ausgebildet, also drei plus …? Das bedeutet, dass ich was mit Mitte dreißig sein muss. Stimmt ja auch ungefähr.
Ich lehne mich zurück. Die Bewegung fühlt sich an, als würde mein Gesäß über die Kante schwellen. Unangenehm, wirklich unangenehm. Es geht mir wirklich nicht besonders gut heute.
Ich habe mir geschworen, konfektionsgrößenmäßig niemals klein beizugeben, niemals. Im Moment passe ich mit Ach und Krach in 52, und so soll es bleiben. Nach unten (48) ist natürlich Luft, aber nach oben (58) kein Raum, wenn man das mal so sagen kann/darf. Seitdem ich etwas
kräftiger
bin, trage ich bevorzugt Cord. Ein freundlicher Stoff, der den Körper umschmeichelt und schützt wie ein Panzer, ein Panzer aus Cord, ein Cordpanzer. Cord verhält sich zum Menschen wie Chitin zu Insekten. Chitin ist der Cord der Insekten, und Cord ist das Chitin des kleinen Mannes. Usw. Dieser «Stoff der Könige» hat noch einen anderen, gewichtigen Vorteil: Er gibt nach. Im Gegensatz zu beispielsweise Baumwollanzugstoff. Als ich mir vor kurzem beim gediegenen Herrenausstatter «Wormland» wieder mal einen Anzug (Baumwolle) gegönnt habe, war das Kauferlebnis begleitet von einem sensationell deprimierenden Zwischenfall: Nachdem ich in den dunkelbraunen Zweireiher geschlüpft war, hatte ich das Gefühl, der Anzug würde ganz ordentlich sitzen, um nicht zu sagen: wie angegossen. Der Verkäufer hingegen schien nicht recht zufrieden zu sein. Er stand hinter mir und machte sich verdächtig lange am Sakko zu schaffen. Er zog und zuzelteund nestelte, und ich hatte keine Ahnung, was genau er da eigentlich trieb, ich ahnte nur, dass es nichts Gutes zu bedeuten hatte. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und drehte mich um:
«Ähem, was
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