Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
was hier im Moment kalt ist, sind meine Füße. Die Ärmsten sind wegen unseres Gesprächs dem Luftzug ausgesetzt. Wenn es Sie nicht stört, werde ich mich jetzt zurückziehen, bevor ich mich erkältet habe. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, die meine wird Ihretwegen kurz ausfallen.«
Damit schloss er die Tür vor Alices Nase.
»Was für ein komischer Kauz!«, brummte sie und kehrte in ihre Wohnung zurück.
»Ich habe Sie gehört«, rief auf der Stelle Mr. Daldry aus seinem Wohnzimmer. »Guten Abend, Miss Pendelbury.«
Wieder in ihren vier Wänden, wusch sich Alice schnell und kuschelte sich unter ihre Bettdecke. Daldry hatte ganz recht, der Winter war in das Haus im viktorianischen Stil eingedrungen, und die Heizung war viel zu schwach, um das Thermometer in die Höhe zu treiben. Sie griff nach einem Buch auf dem Hocker, der ihr als Nachttisch diente, las ein paar Zeilen und legte es zurück. Anschließend knipste sie das Licht aus und wartete, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Der Regen fiel auf das Glasdach. Alice dachte fröstelnd an einen feuchten Boden im Wald, bedeckt von vermodernden Eichenblättern. Sie atmete tief durch und nahm deutlich eine lauwarme Humusnote wahr.
Alice hatte eine besondere Gabe. Ihr Geruchssinn, der wesentlich stärker entwickelt war als bei anderen Menschen, erlaubte es ihr, den geringsten Duft aufzunehmen und für immer im Gedächtnis zu behalten. Sie verbrachte ihre Tage über den langen Tisch in ihrem Atelier gebeugt, um die verschiedenen Moleküle zusammenzustellen, die vielleicht eines Tages ein Parfüm ergeben würden. Alice war eine »Nase«. Sie arbeitete allein und stattete den Parfümeuren von London jeden Monat einen Besuch ab, um ihnen ihre neuen Formeln anzubieten. Im letzten Frühjahr war es ihr gelungen, eine ihrer Kreationen zu vermarkten. Ihr »Jasminwasser« hatte einen Parfümeur in Kensington betört und einen gewissen Erfolg bei dessen vornehmer Klientel gehabt, der ihr jetzt einen kleinen monatlichen Verdienst sicherte und ihr Leben im Vergleich zum Vorjahr verbesserte.
Sie knipste die Nachttischlampe wieder an, setzte sich an ihren Arbeitstisch, griff nach drei kleinen Pipetten und tauchte sie in verschiedene Fläschchen. Bis spät nachts schrieb sie die Formeln der verschiedenen Düfte, die sie mischte, in ihrem Heft nieder.
Das Schrillen des Weckers riss Alice aus dem Schlaf. Sie warf ihr Kissen darauf, um ihn zum Schweigen zu bringen. Durch den Morgennebel drangen gedämpfte Sonnenstrahlen und trafen auf ihr Gesicht.
»Verdammtes Glasdach!«, brummte sie.
Dann vertrieb plötzlich die Erinnerung an eine Verabredung auf dem Bahnsteig ihren Wunsch, noch etwas im Bett zu faulenzen.
Sie sprang auf, zog blindlings einige Kleidungsstücke aus dem Schrank und lief zur Dusche.
Beim Verlassen der Wohnung warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. Mit dem Bus würde sie es niemals rechtzeitig zur Victoria Station schaffen. Also winkte sie ein Taxi heran und beschwor den Fahrer, den schnellsten Weg zu nehmen.
Als sie fünf Minuten vor Abfahrt des Zugs den Bahnhof erreichte, stand eine lange Schlange vor dem Fahrkartenschalter. Alice rannte zum Bahnsteig.
Anton erwartete sie am ersten Wagen.
»Wo bleibst du nur, herrje? Beeil dich, los, steig ein!«, rief er und half ihr die Stufen hinauf.
Sie nahm in dem Abteil Platz, in dem ihre Freunde bereits saßen.
»Was glaubt ihr, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass wir kontrolliert werden?«, fragte sie, noch ganz außer Atem.
»Ich würde dir meine Fahrkarte geben, wenn ich eine gekauft hätte«, antwortete Eddy.
»Ich würde sagen, die Chancen stehen fifty-fifty«, meinte Carol.
»An einem Samstagmorgen? Nein, da würde ich eher denken eins zu drei … Wir werden es ja erleben, wenn wir da sind«, erklärte Sam.
Alice lehnte den Kopf ans Fenster und schloss die Augen. Der Badeort lag eine Stunde von der Hauptstadt entfernt. Sie schlief die ganze Fahrt über.
In Brighton erwartete sie am Ausgang des Bahnsteigs ein Kontrolleur, um die Fahrkarten einzusammeln. Alice blieb vor ihm stehen und tat so, als würde sie in ihren Taschen suchen. Eddy folgte ihrem Beispiel. Anton trat lächelnd zu ihnen und reichte jedem ein Ticket.
»Ich hatte sie bei mir«, sagte er zu dem Kontrolleur.
Er legte den Arm um Alices Taille und zog sie zur Halle.
»Frag mich nicht, woher ich wusste, dass du zu spät kommen würdest. Du bist immer zu spät! Was Eddy angeht, so kennst du ihn ebenso gut wie
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