Die zweite Kreuzigung
Stadt Wardabaha wieder aufgebaut, und Pilger aus der ganzen Welt strömen herbei.«
Jetzt konnte sie nicht mehr an sich halten.
»Sie haben all das getan, alle diese Menschen umgebracht, um diesen Ort zu einer Sehenswürdigkeit für Touristen zu machen? Mit Luxushotel und Golfplatz natürlich. Man trinkt ein paar Cocktails und besucht dann Jesus, um sich ein wenig die Zeit zu vertreiben. Und das soll alles sein?« Sie spuckte aus.
Sie erhob sich und zog sich gegen die Wand zurück. Ihre Hand schmerzte noch von dem Tritt, den er ihr versetzthatte. Als sie sich umsah, bemerkte sie, dass Aehrenthal die Reliquien aus dem Besitz ihres Großvaters, wie sie vermutete, tatsächlich hierher gebracht hatte. Sie konnte sie genau sehen, vor allem den langen Speer des Longinus, der an eine Wand gelehnt stand.
»Glauben Sie, ich hätte keinen Respekt vor diesen Dingen?«, fragte er. »Was hätten Sie denn mit all dem getan? Es zusammengepackt und in die Keller der Universität Oxford geschafft, damit dort privilegierte Forscher gelehrte Abhandlungen über Wardabaha schreiben? Und die wahren Gläubigen draußen bleiben? Und Sie der Welt weiterhin erzählen können, Jesus sei ein Jude gewesen? Mein Erlöser ein dreckiger Jude? Ihn so zu verhöhnen? Wer gibt Ihnen das Recht dazu, Ihnen oder Ihren Professoren? Ich werde weit mehr tun, als Sie und alle Ihre Archivare je erreichen können. Ich bringe ihn wieder zum Leben. Dazu seine Mutter, seinen Vater, seine Brüder und Schwestern. Die ganze Heilige Familie wird wieder über die Erde schreiten – Jesus Christus mit uns als Mensch von Fleisch und Blut in einem neuen Reich, in dem ich Gottes neuer Führer sein werde.«
Er hielt inne und zog ein langes Messer aus einer Scheide an seiner Hüfte.
»Sie brauche ich nicht mehr«, sagte er. »Ich kann andere gelehrte Leute finden, Männer mit mehr Erfahrung als Sie. Sie haben Ihre Chance verwirkt. Halten Sie still. Ich will keinen Kampf.«
Er trat vor und streckte eine Hand nach ihr aus, ein Lächeln auf den Lippen.
Was dann geschah, wusste sie später nicht mehr genau. Mit dem Rücken zur Wand, griff ihre Rechte weit aus und packte den
pilum,
den Speer des Schicksals. Sie umklammerteihn, zog ihn vor die Brust, schwang ihn hoch, stützte ihn mit der Linken, tat einen Ausfallschritt, warf sich mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers nach vorn und stieß ihm den Speer direkt unter dem Herzen in die Brust. Mit hellem Klang fiel das Messer zu Boden. Seinem geöffneten Mund entrang sich ein langer Laut ohne Worte und ohne Echo. Er stand immer noch aufrecht und langte mit einer Hand nach dem Speer, den man zuletzt Christus in die Seite gestoßen hatte. Er wollte ihn mit letzter Kraft herausziehen, aber Sarah hielt ihn fest gepackt und stieß ihn zurück. So stand er vor ihr, enttäuscht und voller Wut, weil er einsehen musste, dass eine Frau ihn besiegt hatte. Er griff nach seiner Pistole, aber sie holte noch einmal aus und stieß wieder zu, diesmal etwas höher und direkt ins Herz. Ein paar Sekunden hielt sie ihn aufgespießt, dann zog sie den
pilum
aus seiner Brust, die Knie knickten ihm ein, er fiel zu Boden und rührte sich nicht mehr.
Die Schädel der Toten in den Nischen ringsum sahen ihr zu. Sie hätten Heilige sein können, waren aber sicher ganz normale Menschen, denen das Leben Elend und Mühsal aufgeladen hatte. Sarah konnte ihnen in die Augen schauen. Wenn sie zu lächeln schienen, dann konnte sie das ertragen, denn sie vermochte keinen Unterschied zwischen sich und ihnen festzustellen.
Sie ging zwischen den Grabstätten umher und erkannte eine nach der anderen – jene von Simon und Alexander, von Joseph und Maria sowie deren Kindern, schließlich die von Christus, den heiligsten Ort der Welt, wenn nicht für sie, dann für Millionen Menschen.
Lange saß sie so mitten in diesem Beinhaus, als kommuniziere sie mit den Toten. Ganz in der Nähe lagen frischeLeichen und die Waffen, die sie getötet hatten. Sie verstand alles und auch wieder nichts.
Irgendwann in der Nacht glaubte sie einen Atemzug zu hören. Sie fiel in einen leichten Schlaf. Daraus wurde sie durch einen anderen Laut geweckt. Zwischen den Grabstätten weinte ein Baby. Und eine Mädchenstimme suchte es zu beruhigen.
DREIUNDDREISSIGSTES KAPITEL
Jesus
Ethan und seine Mannschaft erreichten Ain Suleiman am nächsten Tag um die Mittagszeit. Sie lösten eine wahre Hysterie unter den Frauen aus. Zwar redete ihr Führer Ayyub, der ein wenig Tamasheq sprach,
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