Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
wirst du es auch werden. Und jetzt schlaf.«
» Amy?«
» Ja, Caleb?«
» Hat dich auch jemand so geliebt?«
Sie blieb am Bett des Jungen stehen, und die Erinnerungen brandeten über sie hinweg. Die Erinnerung an einen Frühlingsabend, an ein kreisendes Karussell und den Geschmack von Puderzucker. An einen See und an ein Haus im Wald und an das Gefühl einer großen Hand, die ihre eigene umschloss. Tränen stiegen ihr in die Kehle.
» Ich glaube, ja. Ich hoffe es zumindest.«
» Tut Onkel Peter es?«
Erschrocken runzelte sie die Stirn. » Wie kommst du darauf, Caleb?«
» Ich weiß nicht.« Der Junge zuckte ein bisschen verlegen die Achseln. » Die Art, wie er einen ansieht. Er lächelt immer.«
» Tja.« Sie tat ihr Bestes, sich nichts anmerken zu lassen. War da auch nichts? » Ich glaube, er lächelt, weil er sich freut, dich zu sehen. Jetzt wirst du schlafen. Versprochen?«
Sein Blick war ein Stöhnen. » Versprochen.«
Draußen strahlten die Scheinwerfer auf die Stadt herab. Die Helligkeit war nicht so total wie in der Kolonie; dazu war Kerrville viel zu groß. Es war eher eine Art Dämmerlicht, hell an den Rändern und mit einer Krone aus Sternen. Amy schlich sich aus dem Hof und hielt sich im Schatten. Am Fuße der Mauer fand sie die Leiter. Sie versuchte nicht, ihren Aufstieg zu verheimlichen. Oben empfing sie der Posten, ein breitschultriger Mann mittleren Alters mit einem Gewehr quer vor der Brust.
» Was fällt dir ein?«
Aber mehr sagte er nicht. Als der Schlaf ihn überkam, ließ sie ihn auf den Laufgang sinken und lehnte ihn mit dem Gewehr auf dem Schoß an die Brüstung. Wenn er aufwachte, würde er sich nur bruchstückhaft und traumartig an sie erinnern. Ein Mädchen? Eine der Schwestern, im groben, grauen Gewand des Ordens? Vielleicht würde er nicht von selbst aufwachen, sondern von einem seiner Kameraden gefunden und weggeschleppt werden, weil er auf dem Posten geschlafen hatte. Das bedeutete ein paar Tage Haft, mehr aber auch nicht. Und glauben würde ihm sowieso niemand.
Sie lief auf dem Laufsteg entlang bis zur leeren Beobachtungsplattform. Die Streife kam alle zehn Minuten vorbei; mehr Zeit hatte sie also nicht. Die Scheinwerfer ließen ihr helles Licht wie eine leuchtende Flüssigkeit über die Felder dort unten fließen. Amy schloss die Augen, wartete, bis ihr Kopf leer war, und schickte dann ihre Gedanken nach draußen, hoch hinaus über das Feld.
– Kommt zu mir.
– Kommt zu mir kommt zu mir kommt zu mir.
Sie glitten aus der Dunkelheit heran. Erst einer, dann noch einer und noch einer, eine leuchtende Phalanx, wo sie am Rande der Schatten kauerten. Und im Geiste hörte sie die Stimmen. Die Stimmen und die Frage:
Wer bin ich?
Sie wartete.
Wer bin ich wer bin ich wer bin ich?
Wie sehr sie ihn vermisste. Wolgast, den, der sie geliebt hatte. Wo bist du?, dachte sie, und das Herz tat ihr weh vor Einsamkeit, denn Nacht für Nacht, seit dieses Neue in ihr erwacht war, spürte sie seine Abwesenheit schmerzlich. Warum hast du mich alleingelassen? Aber Wolgast war nirgendwo, nicht im Wind und nicht im Himmel, nicht in dem Geräusch, mit dem die Erde sich langsam drehte. Der Mann, der er war, war fort.
Wer bin ich wer bin ich wer bin ich wer bin ich wer bin ich wer bin ich?
Sie wartete so lange wie möglich. Die Minuten tickten dahin. Dann näherten sich Schritte auf dem Laufsteg: der Posten.
– Ihr seid ich, sagte sie zu ihnen. Ihr seid ich. Jetzt geht.
Sie zerstoben in die Dunkelheit.
2
76 Meilen südlich von Roswell, New Mexico
Alicia Donadio– Alicia Blades, das Neue Wesen, Tochter des großen Niles Coffee und Kundschafter-Scharfschütze des Zweiten Expeditionsbataillons der Armee der Republik Texas– erwachte an einem warmen Abend im September, viele Meilen und Wochen von daheim entfernt, und schmeckte Blut im Wind.
Sie war siebenundzwanzig Jahre alt, knapp einen Meter siebzig groß und kräftig gebaut, und ihr rotes Haar war kurzgeschoren. Ihre Augen, die einmal blau gewesen waren, hatten jetzt den orangegelben Glanz von glühenden Kohlen. Sie hatte nur leichtes Gepäck, kein Gramm war zu viel. Ihre Füße steckten in Sandalen, die aus Segeltuch geschnitten waren, mit Profilsohlen aus dem vulkanisierten Gummi von Autoreifen. Ihre Jeans waren an den Knien und am Hosenboden verschlissen. Die Ärmel ihres Baumwollpullovers waren abgeschnitten, damit sie sich schneller bewegen konnte. Sie hatte sich zwei lederne Gurte um die Brust geschnallt, in deren Scheiden sechs
Weitere Kostenlose Bücher