Der ungeladene Gast
EDWARD SWIFT REIST AB
Seit ihrer Vermählung mit Edward Swift drei Jahre nach dem Tod ihres ersten Gatten, Horace Torrington, hatte Charlotte ihren gewohnten Platz am Frühstückstisch aufgegeben, um besser auf die Bedürfnisse ihres neuen Ehemannes eingehen zu können. Insbesondere brauchte er Hilfe beim Bestreichen seines Toasts und beim Schneiden von Fleisch, da er im Alter von dreiundzwanzig Jahren bedauerlicherweise aus einer über die Auffahrt seines damaligen Wohnsitzes in County Wicklow, Irland, dahinrasenden Kutsche gefallen war und beim Zusammenstoß mit den schmalen Rädern ebendieser Kutsche den linken Arm eingebüßt hatte. Charlotte, die vorher immer das Fenster und die weite Landschaft im Blick gehabt hatte, saß nun links von Edward und hatte ihn im Blick.
Ihre beiden ältesten Kinder, Emerald und Clovis, neunzehn und zwanzig Jahre alt, für die die Bezeichnung »Kinder« zu dem Zeitpunkt, als wir ihnen begegnen, jedoch keineswegs unzutreffend ist, mochten die neue Sitzordnung nicht. Genauso wenig wie sie Edward Swift mochten oder billigten. Ungeachtet seiner Einarmigkeit fanden sie, dass er einfach nicht zu ihnen passte.
Das Buttermesser mit dem Perlmuttgriff auf dem Mittelfinger balancierend, machte Clovis Torrington die Augen schmal und sah seine Mutter an. Seine Augen hatten etwas überaus Dramatisches, und er machte sie – mit beeindruckender Wirkung – oft schmal, wenn er andere ansah.
»Wir können Sterne nicht aufgeben«, konstatierte er.
»Es wäre in der Tat sehr zu bedauern«, gab sein Stiefvater ihm recht.
Clovis kräuselte abfällig die Lippen.
»Clovis …«, tadelte seine Mutter.
Edward tupfte sich die Lippen sorgfältig mit seiner Serviette ab.
»Ist schon gut, Charlotte«, sagte er und küsste sie beim Aufstehen auf die Stirn. »Bei meiner Rückkehr, Clovis, werden wir mehr wissen. Und bis dahin solltet ihr alle – deine Schwestern, du, und eure Mutter natürlich – euch keine Sorgen machen. Genießt Emeralds Geburtstag und versucht, euch nicht zu grämen. Es tut mir sehr leid, nicht hier sein zu können, um eure Gäste zu begrüßen.«
Charlotte erhob sich ebenfalls und schob ihren Arm in seinen.
»Ihr beide seid schrecklich ungezogen«, warf sie ihren Kindern über die Schulter zu, als sie mit ihrem Mann das Zimmer verließ.
Emerald, die während des ganzen Frühstücks kein Wort gesagt, sondern nur in starrer Zurückhaltung dagesessen hatte, sah ihren Bruder an. Die Tränen in ihren Augen ließen sowohl sein mürrisches Gesicht als auch den riesigen Wandteppich verschwimmen, der hinter seinem Kopf hing – eine Jagdszenerie mit Rehen und Hunden, eine verblichene, vielschichtige Schilderung rasender Verfolgungsjagden über einen blumenübersäten Waldboden, die sie in- und auswendig kannte.
»Wir sollen uns also nicht ›grämen‹«, mokierte sich ihr Bruder über den Ausdruck, den sein Stiefvater benutzt hatte und der ›trotzig‹ und ›verdrossen‹ in nichts nachstand.
Emerald schüttelte den Kopf. In seiner gegenwärtigen Stimmung war Clovis die Verkörperung aller drei Begriffe. »Ach, Clovis«, sagte sie.
Aus der Eingangshalle drang Edwards volltönende Stimme mühelos bis zu ihnen.
»Ach, übrigens, Clovis! Ferryman müsste dringend ausgeritten werden. Falls du es heute noch einrichten könntest, wäre ich dir sehr verbunden.«
Seine gutmütige Autorität hätte einnehmend gewirkt – liebenswert sogar –, wäre nicht allein schon die Existenz des Mannes den Geschwistern ein Dorn im Auge gewesen. Und so brauste Clovis denn auch sofort auf: »Soll er seinen verdammten Gaul doch gefälligst selbst ausreiten!«
Emerald schob ihren Teller beiseite.
»Bei allem, was recht ist: Das kann er wohl schlecht, wenn er in Manchester ist, um das Haus zu retten«, sagte sie, stand auf und verließ das Zimmer durch die andere Tür, um ihrer Mutter und ihrem Stiefvater nicht erneut begegnen zu müssen.
Clovis folgte ihr nicht. Er gehörte nicht zu denen, die anderen folgen. Im Gegenteil war es eher so, dass andere ihm folgten.
Unfähig, ihre düstere Stimmung von sich abzuschütteln, wanderte Emerald eine Weile in der Küche auf und ab, sehr zum Verdruss von Florence Trieves und Myrtle, bevor sie durch die Seitentür in den Garten verschwand.
Es war der letzte Tag im April. Sie registrierte, wie außergewöhnlich sanft für die Jahreszeit die Luft ihr Gesicht umfächelte, dachte aber vor allem an die geharnischte Gardinenpredigt, die sie sich selbst halten
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