Diebe
Handys zu leicht zurückzuverfolgen sind, und sie wollte nichts zulassen, was jemanden auf ihre Spur führen könnte. Zog es vor, Dinge von Angesicht zu Angesicht zu erledigen. »Du kannst sehn, ob jemand dich anlügt, wenn du ihm ins Gesicht guckst«, pflegte sie zu sagen. Baz fragt sich, wie oft Fay sie beide wohl angelogen hat.
Sie berührt Demis heilen Arm, fährt sich mit dem Finger über die Kehle. »Nicht hier lang.« Worauf beide ein Stück zurückkrabbeln. Unter dem Gebäude, vor dem Giacomo steht, befindet sich eine alte Abwasserleitung, die in den Graben führt, und zwar direkt neben dem Eingang zu dem alten Lagerhaus, in dem Fay wohnt. Die Leitung hat in früheren Zeiten Flusswasser und natürlich Abwasser aufgenommen, ist jedoch schon lange trockengelegt, noch bevor Baz, Demi und Fay ins Barrio gekommen sind. Sie und Demi sind wohl hundertmal durch das Rohr gekrochen, als sie noch kleiner waren, haben es manchmal auch für Mutproben benutzt, wenn neue Kinder zu ihrer Bande gestoßen waren, aber das ist alles schon Jahre her. Baz’ Ansicht nach wissen Miguel und die anderen überhaupt nicht, dass es existiert.
»Tunnel«, flüstert sie Demi ins Ohr, und er nickt, weiß sofort, was sie meint. »Schaffst du das mit deinem verletzten Arm?«
»Mach dir nicht schon wieder ins Hemd, Baz«, zischt er.
»Okay.« Sie merkt aber, dass die Wunde ihm Schmerzen bereitet.
Sie schleichen sich etwa zehn Meter rückwärts, dann räumt Baz leise und schnell allerlei Abfall beiseite, bis die Öffnung freiliegt. Schwarz und rund, wie ein Schlangenmaul. Ganz kurz hat sie den Gedanken, Demi einfach allein loskriechen zu lassen, schließlich ist er derjenige, der so scharf darauf ist, sich das zu holen, was Fay ihm seiner Ansicht nach schuldet. Doch was nützt dir alles Geld, wenn du hier unter all dem Dreck begraben bist? Was nützt dir alles Geld, wenn Fay und irgendwelche Schattenmänner dich dabei ertappen, wie du deine Finger durch die Lücke in der Mauer steckst und Fays Schatzkiste herausziehst?
Aber was sollte sie hier solange machen, auf dem Bauch liegen und warten? Was würde sie tun, wenn sie seinen Schrei hörte, wenn er erwischt und verprügelt würde? Sie müsste dann sofort hinterherkrabbeln und sich auch erwischen lassen. Sie atmet einmal durch und schätzt die Größe des Lochs ab. Eigentlich müssten sie sich noch immer hindurchquetschen können, notfalls halt wie die Paste aus einer Tube, aber es sollte gehen. Klar ist jedenfalls, dass keiner damit rechnet, dass sie gleich neben der Haustür direkt aus der Erde kommen.
Sie blickt zu Demi zurück – das Weiße seiner Augen schimmert ihr im Dunkeln entgegen. Er tätschelt ihr Bein, sie holt noch einmal Luft, und dann schiebt sie sich, die Arme nach vorn ausgestreckt, in das Abwasserrohr hinein und versucht dabei nicht an Spinnen, Ratten und Schlangen zu denken. Im Barrio gibt es Ratten, die so groß sind wie Hunde. Ihr Mund ist fest zugepresst. Dreck rieselt ihr in den Nacken, Dreck bedeckt ihr Gesicht, bröckelt auf ihre Lippen, verstopft ihr die Nase, macht es ihr schwer, die stinkende Luft einzuatmen.
Die Seitenwände des Rohrs fühlen sich an wie Schmirgelpapier, und während sie sich langsam vorwärtsschiebt, merkt sie, wie ihr neues sauberes Shirt sich allmählich auflöst. Ihr Unterkiefer ist verspannt, die Fingerspitzen wund, die Augen fest zugekniffen. Und wütend ist sie jetzt auch, aber Wut ist gut, sie hält sich daran fest, gibt sich ihr ganz hin, lässt ihren Gedanken keinen Spielraum, um sich vorzustellen, was vor ihr liegen mag, keine Gelegenheit, sich die hundegroßen Ratten auszumalen, die ihr auflauern. Sie schleift sich einfach immer weiter voran. Die halbe Strecke müssten sie jetzt geschafft haben. Ein Zurück gibt es nicht. Nicht mal ein Wurm könnte sich rückwärts durch dieses Rohr schlängeln.
Irgendwas packt sie am Fuß, und beinahe fängt sie an zu schreien, bevor ihr klar wird, dass es Demi ist. »Hier, Baz?« Er unterdrückt ein Husten.
Quälend langsam wälzt sie sich herum, bis sie auf dem Rücken liegt, dann untersucht sie die Oberseite des Rohrs mit den Fingern, tastet nach der nicht abgerundeten Fläche der Abdeckung. »Nein, ich finde nix.«
Es folgen schabende und schrammende Geräusche sowie ein unterdrücktes Stöhnen, als auch Demi sich mühsam umdreht.
Sie wartet, versucht regelmäßiger und vor allem langsamer zu atmen, die aufsteigende Panik einzudämmen. Sie hört ihn tasten und stochern, hört das
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