Dienstags bei Morrie: Die Lehre eines Lebens (German Edition)
blauen Anzug und Morrie in seinem schäbigen grauen Pullover. Er hatte sich geweigert, für dieses Interview elegante Kleidung zu tragen oder sich schminken zu lassen. Seine Philosophie lautete, daß der Tod niemandem peinlich sein sollte; er war nicht bereit, dessen Nase zu pudern.
Da Morrie im Rollstuhl saß, erfaßte die Kamera nicht seine verkümmerten Beine. Und da er noch immer fähig war, seine Hände zu bewegen – Morrie hatte immer mit beiden Händen geredet –, vermittelte er eine große Leidenschaftlichkeit, als er erklärte, wie man sich mit dem Ende des Lebens auseinandersetzt.
»Ted«, sagte er, »als all dies begann, fragte ich mich: ›Werde ich mich vom Leben zurückziehen, so wie die meisten Leute, oder werde ich leben?‹ Ich beschloß, daß ich
leben würde – oder zumindest versuchen würde zu leben –, und zwar so, wie ich es möchte: mit Würde, mit Mut, mit Humor, mit Gelassenheit.
Manchmal passiert es, daß ich am Morgen hemmungslos weine und mein Schicksal betrauere. Manchmal bin ich morgens schrecklich wütend und bitter. Aber es dauert nicht allzu lange. Dann stehe ich auf und sage: ›Ich möchte leben …‹
Bisher war ich fähig, es zu tun. Werde ich es auch weiterhin können? Ich weiß es nicht. Aber ich habe mit mir selbst eine Wette abgeschlossen, daß das der Fall sein wird.«
Koppel schien von Morrie außerordentlich beeindruckt zu sein. Er fragte, was es mit der Demut auf sich habe, die der Tod uns lehrt.
»Tja, Fred«, sagte Morrie beiläufig und korrigierte sich dann rasch. »Ich meine Ted …«
»Tja, das ist jedenfalls etwas, wodurch man Demut lernt«, sagte Koppel lachend.
Die beiden Männer sprachen über das Leben nach dem Tod. Sie sprachen über Morries zunehmende Abhängigkeit von anderen Menschen. Er brauchte bereits Hilfe beim Essen und beim Sitzen und wenn er sich von einer Stelle zur anderen bewegte. Was, fragte Koppel, machte Morrie im Hinblick auf seinen langsamen, schleichenden Verfall am meisten Angst?
Morrie zögerte. Er fragte, ob er diese bestimmte Sache im Fernsehen sagen könne.
Koppel sagte: »Nur zu.«
Morrie sah dem berühmtesten Interviewer Amerikas in die Augen. »Tja,Ted, eines Tages, in naher Zukunft, wird mir jemand den Hintern abwischen müssen.«
Die Sendung wurde am Freitagabend ausgestrahlt. Sie begann mit Ted Koppel, der hinter seinem Schreibtisch in Washington saß. Seine Stimme drückte Autorität aus.
»Wer ist Morrie Schwartz«, begann er, »und warum werden am Ende des Abends so viele von Ihnen ihn mögen?«
Eintausend Meilen entfernt in meinem Haus auf dem Hügel zappte ich von einem Fernsehkanal zum anderen. Ich hörte diese Worte aus dem Fernsehapparat – »Wer ist Morrie Schwartz?« – und erstarrte.
Es ist unser erster gemeinsamer Kurs, im Frühling des Jahres 1976. Ich betrete Morries großes Büro und sehe die unzähligen Bücher, die sich, Regal für Regal, an der Wand aneinanderreihen. Bücher über Soziologie, Philosophie, Religion, Psychologie. Auf dem Hartholzfußboden liegt ein großer Teppich, und ein Fenster gibt den Blick auf die Promenade des Campus frei. Es sind nur etwa ein Dutzend Studenten dort, sie halten Hefte und Vorlesungsverzeichnisse in den Händen. Die meisten von ihnen tragen Jeans und Sandalen und karierte Flanellhemden. Ich sage mir, daß es nicht leicht sein wird, einen Kurs, in dem nur so wenige Studenten sind, zu schwänzen. Vielleicht sollte ich ihn doch nicht belegen.
»Mitchell?« sagt Morrie, der die Anwesenheitsliste verliest.
Ich hebe eine Hand.
»Ziehen Sie Mitch vor? Oder ist Mitchell besser?«
Diese Frage ist mir noch nie von einem Lehrer gestellt worden. Ich schaue diesen Kerl mit seinem gelben Rollkragenpullover, seinen grünen Cordhosen und dem silbrigen Haar, das ihm in die Stirn fällt, prüfend an. Er lächelt.
»Mitch«, sage ich. »So nennen mich meine Freunde.«
»Gut, dann also Mitch«, sagt Morrie, als hätte er ein Geschäft abgeschlossen. »Und Mitch?«
»Ja?«
»Ich hoffe, daß Sie mich eines Tages als Ihren Freund betrachten werden.«
Das Einführungsgespräch
Als ich mit dem Wagen in Morries Straße in West Newton, einem ruhigen Vorort von Boston, einbog, hatte ich einen Becher Kaffee in einer Hand, und ein Handy klemmte zwischen meinem Ohr und meiner Schulter. Ich redete mit einem Fernsehproduzenten über einen Film, den wir gerade drehten. Meine Blicke sprangen von der Digitaluhr – mein Rückflug war in wenigen Stunden –
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