Ruf des Blutes 1 - Tochter der Dunkelheit (German Edition)
Prolog
Kurz vor Weihnachten, und draußen fällt Schnee. Ich liebe diese Stimmung, die alles und jeden in diesen Tagen umgibt. Ich schaue den Schneeflocken zu, wie sie zur Erde fallen, fast wie ein Seufzen. Der Schnee dämpft alle Geräusche. Bei Nacht sogar bis zur völligen Lautlosigkeit. Alles erscheint still und friedlich. Ich könnte fast vergessen … Aber nein. Ich vergesse nichts.
Widerstrebend löse ich meinen Blick von dem Frieden vor meinem Fenster. Wende mich meinem eigentlichen Vorhaben zu. Der Cursor auf dem Bildschirm blinkt, während ich die richtigen Worten suche, um anzufangen.
Wir schreiben das Jahr 1999. Ich sitze bei Kerzenlicht in meinem kleinen, gemütlichen Zimmer im Londoner Mutterhaus Gorlem Manor. Der Jahrtausendwechsel steht vor der Tür. Das Millennium, vor dem sich alle so sehr fürchten. Seit Tagen geistert das Gespenst des Weltuntergangs durch alle Medien. Aber ich glaube nicht daran, dass unsere Erde untergeht. Sie wird sich weiterdrehen, wie sie es immer getan hat. Dieses besondere Datum ist für mich nicht mehr, als ein passender Zeitpunkt, um meine Geschichte niederzuschreiben. Nur für mich. Damit ich begreifen kann, wie in so kurzer Zeit soviel passieren konnte. Wie es mich und die Menschen in meinem Leben verändert hat.
Ein Blick in den Spiegel genügt, um mir vor Augen zu führen, dass ich lernen muss, es zu akzeptieren. Auch wenn es mir wie ein endlos langer Traum vorkommt. Aber besteht nicht jedes Leben letztendlich nur aus einem Traum? Ich glaube, der Unterschied liegt lediglich darin, dass man aus einem Traum jederzeit erwachen kann. Doch wie erwacht man aus dem Leben?
Seit meiner Kindheit wurde ich in der Tradition der Großen Muttergöttin erzogen. Im Glauben an das Gute, an eine fruchtbare und positive Kraft, die das Leben ehrt und über ihre Kinder wacht. Im Einklang mit den Kreisläufen des Lebensrades, der Gezeiten und der Jahreswechsel. Meine Grandma hatte mich nach dem Tod meiner Eltern bei sich aufgenommen. Als Wicca-Priesterin der großen Göttin hoffte sie immer, dass auch ich den Weg des alten Glaubens gehen würde.
Ich war zwei Jahre alt, als meine Eltern starben. Hatte so gut wie keine Erinnerung an sie. Nicht mal daran, wie sie ausgesehen hatten, da es von niemandem aus der Familie Bilder gab. Mit Bildern konnte man Macht über eine andere Person ausüben. Deshalb lehnte Grandma sie generell ab. Mein Pass war das einzige Zugeständnis, das sie jemals in dieser Hinsicht gemacht hatte. Weil es sich eben nicht vermeiden ließ.
Mein Vater kam bei einem tragischen Unglück ums Leben. Seine Familie brach daraufhin jeglichen Kontakt ab. Mama folgte ihm nur wenige Monate später. Vielleicht aus Kummer. Grandma sprach nie davon.
Das Haus, in dem ich meine Kinderzeit verbrachte, lag an einem kleinen See, ein Stück außerhalb von Thedford. Er war aus Holz und Stein massiv gebaut, hatte eine große Veranda an der Vorderseite und eine kleinere nach hinten zum Garten hin. Außerdem Giebel im oberen Stockwerk, wo sich die Schlafzimmer befanden. Es war schön hier. Umgeben von dem kleinen Wäldchen, das den Namen Bylden Wood trug. Aber auch sehr einsam. Darum erschuf ich mir einen geheimnisvollen Phantasie-Freund, der mich nachts besuchen kam, wenn die Einsamkeit so quälend wurde, dass ich es kaum noch ertrug. Dann schlich ich mich hinaus in den dunklen Garten und hinüber zu der Wiese hinter der Dornenhecke, die man vom Haus aus nicht sehen konnte. Da wartete er immer auf mich. Mit ihm konnte ich über all meine kleinen Geheimnisse und Träume reden. Ein wunderschöner dunkler Prinz, den nur ich sehen konnte. Er besuchte mich, wenn Großmutter schon schlief, damit sie ihn nicht bemerkte. Nannte mich seine kleine Prinzessin oder seinen Augenstern. Manchmal brachte er sogar seinen großen schwarzen Hengst mit. Ich durfte auf ihm reiten und fühlte mich, wie die Königin von England. Mein Prinz kannte auch die beiden Burgfräulein, die mich in meinen Träumen zum Tee auf ein verwunschenes Schloss einluden. Ihre Namen durfte ich nie aussprechen, aber ich sollte sie auch nie vergessen, wie er sagte. Meine kleinen Geheimnisse! Irgendwann hatte sich all das verloren. Ich war erwachsen geworden.
Nächtlicher Besucher
Im Sommer 1997 kehrte ich – Melissa Rowena Carter – nach nur acht Semestern mit einem Examen in Historie und Archäologie von der Uni in Glasgow zurück. Mein magisches Tor hatte sich in den letzten Wochen meiner Abschlussprüfungen geöffnet.
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