Diese eine Woche im November (German Edition)
Pippa langsam und bequem durch die Stadt rudern lassen.
» Worüber lachst du? « , fragt Julia.
» Ach nichts. « Er schaut auf die Straße. Wieso will ich eigentlich nicht mit Julia in die Gondel steigen, denkt er. Dummes Zeug. Wir haben andere Sorgen als eine Gondelpartie auf dem Canale Grande.
Die Asphaltstraße endet, der Wagen nimmt eine Abzweigung. Ein Kiesweg führt zu einem Zypressenhain. Der Beamte auf dem Beifahrersitz telefoniert. » Verstanden « , sagt er. » Ja, verstanden. «
Sie halten vor den Bäumen.
» Warum bleiben wir stehen? « Tonio beugt sich vor.
» Die Questura wartet auf den richterlichen Beschluss. Erst dann können wir reingehen. Muss jeden Moment so weit sein. «
» Ich halte das nicht aus. « Bevor jemand Tonio daran hindern kann, beugt er sich über Julia, öffnet die hintere Tür und springt hinaus.
» He, Junge! « , ruft der dicke Carabiniere. » Verdammt! « Er will hinterher.
» Lass ihn, Giorgio « , sagt der am Telefon. » Mit dem Auto holen wir ihn rasch ein. «
» Tonio! « Julia sieht den schlanken Italiener zwischen den Zypressen verschwinden. Jemand hat ihm ein T-Shirt geliehen, im Übrigen trägt er immer noch die blauen Boxershorts. Was hätte sie ohne ihn gemacht? Was wäre gewesen, wenn er ihr die Brieftasche nicht zurückgegeben hätte? Wenn er nicht unter Wasser aufgetaucht wäre wie ein Engel? Dann säße Julia nicht hier. Sie wäre tot. Ihre Gedanken fliegen zu den verzweifelten Minuten auf der Matratze, als sie sich aneinandergeklammert, sich geliebt haben. War es nicht eher Ausdruck ihrer Todesangst, der Ausweglosigkeit, ein Aufschrei, dass sie leben wollten? Julias Augen werden groß. In den wenigen Stunden, die sie mit Tonio verbrachte, hat sie sich ernsthaft in ihn verliebt. Er ist so ziemlich das Gegenteil der Jungs, die sie von zu Hause kennt. Er stellt keine hohen Ansprüche ans Leben und ist zugleich so voller Energie. Er ist ein Blitz. Und ausgerechnet dieser venezianische Blitz musste Julia treffen. Zwei Tage, Himmel noch mal, man verliebt sich nicht in zwei Tagen! Julia stößt einen tiefen Seufzer aus. Sie schaut ihm nach. Da stürzt er sich schon wieder in ein Wagnis, das übel für ihn enden könnte. Weshalb lässt er nicht Leute diesen Job machen, die dafür ausgebildet wurden? Julia betrachtet die drei Carabinieri. Sind das die Männer, die ihren Vater retten können? Ein Blick hinaus – Tonio ist nicht mehr zu sehen.
***
Schritte vor der Tür. Kein normales Auf und Ab, eilige Schritte. Rinaldo sitzt in der Besenkammer. Um ihn ist Dunkelheit. Unter der Tür huschen Schatten vorbei. Nachdem er unbemerkt aus dem Krankenzimmer geschlüpft war, hatte er gehofft, ein Büro zu finden, einen Laptop, ein Handy, irgendetwas, womit er einen Ruf losschicken könnte. Rinaldo dachte, ein Mann wie er wäre imstande, sich von jedem Punkt der Welt aus bemerkbar zu machen. Mit Ausnahme einer Besenkammer. Als sich über den Korridor plötzlich jemand näherte, schlüpfte er hier hinein. Was er von draußen mitkriegt, hört sich hektisch an. Die Trucidi brechen auf. Ist ihr Coup geglückt? Haben sie den Anschlag auf Albarella bereits ausgeführt? Was geschah mit Tonio, mit Pippa, dem deutschen Mädchen?
» Wo ist er! « , brüllt eine tiefe Männerstimme beängstigend nah.
Die Trucidi machen reinen Tisch, denkt Rinaldo, sie wollen keine Spuren hinterlassen. Sie können nicht riskieren, dass ich am Leben bleibe. Gleich bringen sie mich um. Womit soll er sich wehren? So verbraucht sein Herz auch ist, in diesem Augenblick schlägt es wild. Er will nicht sterben, ist die simple Botschaft seines Herzens. In einer Besenkammer erschossen zu werden, ist kein würdiges Ende. Rinaldo tastet um sich, er sucht etwas, womit er zuschlagen könnte. Seine Finger greifen eine Spraydose, er nimmt den Deckel ab. Keine Ahnung, was dadrin ist, vielleicht nur Möbelpolitur. Wer immer diese Tür als Erster öffnet, Rinaldo wird ihm das Zeug ins Gesicht sprühen.
» Sucht ihn! « , ruft die Grabesstimme. » Ich kümmere mich um den Bullen! «
Der Bulle. Julias Vater stellt eine noch größere Gefahr für sie dar als ich, denkt Rinaldo. Türen werden aufgerissen. Ein paar Sekunden noch, und sie werden hier sein.
Ein Schuss. Der Todesschuss auf Julias Vater? Mehrere Schüsse, viele. Das Geknalle kommt von draußen! Jemand will herein. Wer es auch ist, er hat die Wächter dieses Hauses aufgeschreckt. Plötzlich hört Rinaldo zwei Töne, ein gleichbleibendes Intervall. Noch
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