Diese eine Woche im November (German Edition)
nächsten Baum tritt ihm Pippa in den Weg und präsentiert eine hellgraue Brieftasche.
» Kreditkarte, eine Menge Bargeld, die Bilder von zwei hübschen Kindern. «
Sie sehen sich an.
» Alles wird anders? « , fragt Pippa ernst.
» Alles wird anders. « Er lächelt in das kleine, hübsche Gesicht und nimmt das Portemonnaie.
Das Paar ist weitergegangen. Arm in Arm spaziert es in Richtung Innenstadt.
» Signora! «
Die beiden drehen sich um.
» Ich glaube, Sie haben etwas verloren. « Den Geldbeutel in der erhobenen Hand, rennt er auf sie zu.
» Das ist ja …! « Sie fasst in die Tasche. » Unglaublich! Wie konnte ich denn …? «
» Ist das Ihre? « , fragt Tonio. » Sie lag hinter der Bank. «
Der Mann mustert ihn misstrauisch. » Wie soll sie dahin gekommen sein? «
» Das weiß ich nicht. « Er gibt der Frau die Brieftasche.
» Jetzt wollen Sie wahrscheinlich einen Finderlohn? « , sagt der Mann.
» Wieso? « Tonio lächelt offen. » Ich wünsche noch einen schönen Tag. « Er macht kehrt.
Pippa sitzt an den Anlegestegen auf einem Geländer. » Und? Wie fühlt man sich als Wohltäter? «
» Der Mann hat den Braten gerochen. Übrigens keine schlechte Masche: Wir klauen was, geben es zurück und kriegen Finderlohn. «
» Nicht mein Ding. « Sie baumelt mit den Beinen.
» Meins auch nicht. Was willst du mit dem schönen Tag noch anfangen? «
» Ich muss zum Onkel. Die Nachbarin hat sich drei Tage lang um ihn gekümmert. « Pippa baumelt mit den Beinen. Plötzlich droht sie das Gleichgewicht zu verlieren.
» Fall bloß nicht rein. « Er hält sie fest. Sie schauen übers Wasser hinüber nach San Michele, der Toteninsel.
Pippa sitzt ganz still. Warum lässt Tonio ihre Hüfte nicht los? » Was macht Julia wohl als Erstes, wenn sie nach Düsseldorf kommt? «
Er packt sie fester um die Taille. » Hör zu: Jetzt reden wir erst mal eine Weile nicht mehr über Julia. Okay? Heute ist heute und Düsseldorf ist weit weg. «
Verwundert sieht sie in seine Augen. Was soll das ungewohnte Leuchten, dieses merkwürdige Hochziehen der Augenbrauen? Weil sie der Moment verlegen macht, fragt Pippa: » Hast du Hunger? «
» Hunger hab ich immer. «
Wie gern würde sie die Sehne an seinem Hals streicheln. Wie gern würde sie ihn küssen, mitten auf den Mund. Natürlich könnte sie ihn einfach küssen, warum nicht? Es wäre an der Zeit, dem sturen Kerl endlich die Augen zu öffnen. Aber sie sind in Italien und in Italien ist der erste Kuss immer noch Männersache. Pippa erwidert Tonios Blick länger als gewohnt. Sosehr sie sich nach seinem Kuss sehnt, unternimmt sie nichts.
Und deshalb kriegt sie ihn. Er beugt sich vor, schließt die Augen und küsst sie. Vor Überraschung hält Pippa die Augen offen. Küsst und starrt ihn an, bemerkt die dunklen Härchen zwischen seinen Brauen.
» Was ist? « Er öffnet die Augen.
» Nichts. « Sie fasst in sein Haar, zieht seinen Kopf zurück und drückt ihre Lippen fest auf seine. Ich danke dir, Maria, denkt Pippa. Du hast meinen Wunsch anders erfüllt, als ich wollte, aber so gefällt es mir noch besser. Sie schlingt ihre Arme um den Jungen, den sie über alles liebt.
Im Sonnenschein gleitet eine geschmückte Barke übers Wasser, zwei Boote folgen ihr. Es ist ein Begräbniszug, er setzt zur Friedhofsinsel über. Vom Campanile Madonna dell’Orto läuten die Glocken. Die anderen setzen von allen Seiten ein. Es wird wohl Mittag sein.
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