Dieses Buch gehört meiner Mutter
gehört:
Schreie, Schreie, Schreie.
So sei sie gestorben, schreiend.
Ihr Bruder, mein Vater,
habe es auch gehört, später.
Schreie, die in meinen Ohren dröhnen.
[20] Er habe den Arzt anzeigen wollen,
aber davon Abstand genommen.
Weil kein Durchkommen gewesen wäre.
Weil die Ärzte und die Richter zusammengehalten hätten.
Weil die Prozeßkosten ihn um Hab und Gut gebracht hätten.
Weil seine Lieblingsschwester davon
nicht wieder lebendig geworden wäre.
So habe ich es gehört von ihm.
Und ihm keinen Vorwurf gemacht.
Warum.
[21] Das ist die zweite Erinnerung
an die Zeit vor meiner Geburt:
als mein Vater in Przemyśl im Lazarett lag
und meine Mutter Soll und Haben
auseinanderzählte. Es ging sich nie aus.
Es war im zweiten oder dritten Kriegsjahr.
Die Glocken waren abzuliefern: Gott für Eisen.
Die in unserer Kapelle hatte viel Geld gekostet,
viel Zeit, viel Streit.
Aber das war es nicht.
Sie rief zum Gebet. Sie stärkte den Glauben.
Das war es auch nicht.
Ihr Klang war hell und süß und ohne Nutzen.
Das war es schon eher. Aber nicht ganz.
Sie war, was die Menschen verband.
Nicht, was jedem für sich,
alles, was ihnen gemeinsam gelungen war.
Der Schmied brachte sie im Karren nach Leonhard.
Den Glöckel hatte er fest umwickelt.
So stand sie zwischen der dicken Kirchglocke
und der zierlichen Sterbeglocke
beim Haunschmid im Vorhaus,
matt schimmernd im Zwielicht,
geknebelt für den Transport in die Stadt, in eine Gießerei.
Die Fuhrleute saßen in der Stube und zechten auf Vorrat.
Der Schmied zechte mit. Er war nicht recht bei der Sache.
Er hatte ein Auge auf die Tür, er lauschte unauffällig.
Seine zwei stärksten Töchter (alle fünf waren stark)
stahlen die Glocke, als es drinnen laut herging.
Sie schleppten sie über den Pfarrhof,
[22] den Acker hinunter, beim Aumann vorbei,
wateten zweimal durch den Aubach,
damit Hunde keine Witterung aufnehmen konnten,
schwitzten, keuchten, gönnten sich eine kleine Rast.
Gegen Mitternacht waren sie in der Schmiede.
Dort war schon die Brücke herausgerissen,
eine Grube gegraben. Hinein mit ihr!
Sooft ein Roß beschlagen wurde, seufzte sie hell.
Also wieder ausgegraben, bei Neumond,
die Schmiedin leuchtete, die Töchter faßten mit an,
bis die Glocke endlich umgebettet war:
in ein Lehmgrab unter der steinernen Platte,
aus dem sie auferstehen sollte.
Gefahndet wurde nach Diebsgut wie Täter.
Die Gendarmen hielt man für befangen,
deshalb kamen drei Detektive aus der Stadt.
Sie verhörten alle im Dorf,
drohten mit Beugehaft,
stocherten mit der Gabel im Mist und im Heu.
Unverrichteter Dinge reisten sie ab.
Als der Krieg aus war, verspielt wie alle,
die uns betrafen, läutete die Firlinger Glocke
als einzige weit und breit den Frieden ein
und, aus Dankbarkeit, ganz von allein.
Wer genau hinhorchte, vernahm ihre Botschaft:
Ehre dem Schmied, Ehre den Töchtern!
[23] Als ich getauft werden sollte,
»schnell schnell, eh sie uns stirbt«,
lag meine Mutter noch im Wochenbett,
das sie sich in die Stube hatte stellen lassen,
des besseren Überblicks wegen.
»Sie soll Henriette heißen, merk dir das«,
sagte sie zu meinem Vater. Er nickte zerstreut,
spannte ein und fuhr mit mir nach Leonhard.
Im Wirtshaus saßen sie übers Eck,
mein Vater und sein jüngerer Bruder,
der Fleischhacker-Wirt,
der als Pate ausersehen war.
Ich lag im Wickelpolster, still trotz der Fliegen,
in Obhut der alten Hebamme,
die schielend Tabak kaute.
Es war Anfang August. Der Durst war groß.
Das Bier schäumte. Der Schnaps brannte.
Es fiel ihnen schwer, aufzustehen,
und sie hatten rote Gesichter.
Auch die Zunge wollte nicht recht.
Hochwürden Weidinger runzelte die Stirn,
als sie, verspätet und mit ungehörigem Krach,
durchs Kirchentor wankten.
Ungewiß, wer mich im Arm hielt,
ein Glück nur, daß er mich nicht fallen ließ
oder gar, stolpernd, dann stürzend, erdrückte.
Beim Becken, vor Beginn der Zeremonie,
fragte Weidinger nach dem Namen,
auf den er mich taufen sollte.
[24] Mein Onkel sah meinen Vater an,
mein Vater sah meinen Onkel an.
Keiner von ihnen wußte die Antwort,
jeder klappte den Mund auf und zu.
Da begann ich zu schreien, was meinen Vater belebte.
Sein Blick irrte durchs Kirchenschiff,
wanderte über die Säulen, die Bänke, den Opferstock,
streifte den Seitenaltar, blieb endlich haften
an der Muttergottes mit Kind. Seine Miene hellte sich auf.
»Maria«, sagte er mit rauher
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