Diesseits Des Mondes
Miteinander und durcheinander. Ich hab immer die Wahrheit gesagt, sagte Anna. Am schönsten war die erste Flugreise ihres Lebens. Das ist schon lustig, wenn du mit achtundsechzig zum ersten Mal fliegst, sagte Anna. Von München nach Hannover. Grad stürmisch war es, geschaukelt hat es, und als sie drunten war in der Stadt, da sind die Mülleimer durcheinandergerollt. Das hat mir gefallen, sagte Anna. Es erstaunt sie, dass die Leute, vornehme Leute, sie mit Blumen abholen, ihr herzlich und höflich begegnen. Anna hat das anders gelernt. Noch mit zwanzig, als sie den Albert geheiratet hat, waren Demütigungen an der Tagesordnung. Albert ging in den Krieg. Anna, hochschwanger, ackerte auf dem Feld. Die alten Onkel und Tanten daheim, denen der Hof gehörte, durchsuchten Annas und Alberts Zimmer nach Spuren der jungen Liebe. Bleich in ihrer Entrüstung lasen sie Alberts Briefe vor, fanden sie Präservative, holten sie Anna als Angeklagte dazu. Als das erste Kind geboren war, musste Anna weiterhin auf dem Feld Männerarbeit verrichten. Als das Kleine zu laufen begann, banden die Alten es am Tischbein fest. 1944 kam Albert zurück aus dem Krieg, mit zerschossenem Hals. Jetzt, da er den Alten nicht widersprechen konnte, widersetzte er sich umso heftiger. Die Alten ließen ihn schließlich machen. Anna, versöhnlich, rasierte den Onkeln die Bärte, rauchte den Zahnlosen die Pfeife an, verband der Tante die offenen Beine. Hausarbeit, Stallarbeit, Feldarbeit. Der Herrgott mag die Bauern nicht, sagte Albert. Ich möchte nie mehr eine Bäuerin werden, hatte Anna in ihr Buch geschrieben. Unser Leben wurdeuns gestohlen, das sagten sie beide. Erst jetzt, da sie siebzig sind, haben sie Zeit zum Ausschlafen. Ihr Land ist verpachtet. Wenn Anna beim Nachbarn Milch holen will, stemmt der die Arme in die Hüften: Warum habt ihr die Kühe verkauft, ha?
Sie haben beide keine Kraft mehr. Vor allem Annas Körper kann nichts mehr leisten. Operationen, drei Krankenhäuser in den letzten fünf Jahren. Zig Ärzte behandeln die Bäuerin. Die Heilige Ölung hilft auch nicht. Oder doch? Als Anna schließlich wieder heimkommt, stellt Albert einen Stuhl mitten in die Küche, damit Anna auf dem Weg vom Herd zum Tisch rasten kann. Als Anna andere Bäuerinnen trifft, erwidern die nicht ihren Gruß. Sie sind enttäuscht, dass Anna immer noch lebt. Nach so langer Krankheit hat der Mensch zu sterben.
Doch Anna sieht das Blühen um sich, den Frühling, sie hört den Wind ums Haus gehen und ahnt die Wärme, die Fruchtbarkeit. Sie sieht die Bosheit, den Neid und den Tod. Sie zeigt Albert, wo ihr schwarzes Brautkleid hängt, das sie im Sarg wieder tragen will. Und dann setzt sie sich an den Tisch und schreibt in die Kladden so viele Wörter, wie sie das in ihren Schuljahren nie tun konnte. Sie schreibt es für die Kinder auf. Niemals hab ich denkt, dass andere das lesen, sagt Anna.
Krug hatte Annas Buch gelesen. Die einfache poetische Sprache hatte ihn gefesselt, mehr noch die Sachlichkeit, die Gelassenheit, mit der Anna ihr Leben beschrieb. Krug suchte in Annas stillem schönen Gesicht das kleine Mädchen, das so radikal und endgültigaus seinen Kinderträumen gerissen und seitdem nicht mehr zum Träumen zugelassen wurde.
Wenn Krug bei schönem Wetter auf der Terrasse schrieb, kam Anna leise, um die Blumenkästen und Töpfe zu wässern, in denen sie ihre Blumen hätschelte. Die Geranien, die Fuchsien, die Margeriten, Lupinen und Akeleien loderten über die Brüstung der Terrasse. Na, sagte Anna, wie geht es deinem
Kaiser von China?
Kriegt er nun die Shin Lan oder kriegt sie der Wang? Krug erklärte Anna, dass sich der Kaiser gerade mit seinem Minister über die Kriegsstrategie unterhalte und keine Zeit für Liebesgeschichten habe. »Halt dich aber nicht zu lange bei dem Krieg auf«, sagte Anna ernst und runzelte die Stirn, »wenn die Leut mehr über die Liebe wüssten, bräuchten sie keinen Krieg.«
Später rief Anna zum Essen. Auch von der Küche aus sah Krug wieder in Blüten. Anna hat das Haus mit Blüten umzingelt, sagte Albert. Damit wir nicht wegkönnen. Anna hatte ein Hähnchen gebraten. Selbst gefüttert mit Weizen und selbst geschlachtet, Hals umgedreht, Kopf abgeschnitten, fertig. Dass du das kannst, Anna, sagte Krug. Das könntest du auch, Michl, wenn du es müsstest.
Sie aßen schweigend, ernst und viel. Beim Abwasch sagte Anna zu Krug, dass eine Fotografin sich angesagt habe. Die will mi durchfotografiern, sagte Anna, und Krug hörte
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