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Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Titel: Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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vier Länder zur Auswahl vorgeschlagen, Costa Rica, Kolumbien, Frankreich und England. Einige Schüler, die bereits dort ihr Auslandssemester absolviert hatten, sollten im Rahmen einer öffentlichen Präsentation über ihre Erfahrungen berichten. Meine Tochter tendierte nach Kolumbien, obwohl Costa Rica auch verheißungsvoll klang. Nicole konnte sich sogar vorstellen, ein halbes Semester in Kolumbien und ein weiteres halbes Jahr in Costa Rica zu verbringen. Ihre Mutter meinte jedoch unmissverständlich, ihre Tochter werde bis zum Erreichen der Volljährigkeit allein nirgendwohin fahren, außer mit uns in den Garten nach Glücklitz im Land Brandenburg. Später als erwachsener Mensch könne sie unseretwegen auf Weltreise gehen, Ozeane überqueren und zum Mond fliegen, doch solange wir die Verantwortung für sie trügen, werde es kein Kolumbien geben.
    Nicole ging trotzdem zu der Präsentation, um wenigstens den Auslandserfahrungen anderer zu lauschen. Doch der Welt gelang es an diesem Tag nicht, sich anständig zu präsentieren. Kolumbien war krank geworden und kam nicht, Frankreich hatte sich um zwei Stunden verspätet, und von Costa Rica berichtete ein dünner Junge mit dicker Brille, was für unglaubliche gelbe Würmer dort nach einem längeren Regenfall aus der Erde kämen. Der Junge war ein richtiger Wurmfanatiker, er hatte mehrere Exemplare mitgebracht und berichtete sehr leidenschaftlich mehr über sein Hobby als über das Land und die Menschen dort. Aus seiner Erzählung konnte man schließen, dass in Costa Rica hauptsächlich Würmer lebten und Menschen nur ab und zu vorbeischauten, um diese zu bewundern.
    Das Mädchen, das für England zuständig war, gab zu, nie in England gewesen zu sein. Sie war stattdessen ein halbes Jahr im südlichen Teil der USA gewesen. Aus Mangel an Schülern mit Englanderfahrung wurde ihr von der Schulleitung aufgetragen, über England zu referieren. Schön, sagte sie, stellen Sie sich London vor, eine richtige Weltstadt. Ihr Amerika dagegen sei ein Provinznest gewesen. Sie verkauften dort keine Zigaretten und keinen Alkohol, nicht nur nicht an die Jugendlichen, sondern auch nicht an Erwachsene. Man konnte dort alt werden, ohne einmal einen Schnaps zu kippen oder einen Joint zu rauchen, schimpfte sie.
    Ihre Gastfamilie bestand aus ziemlich geizigen Menschen: Sie zählten die Toastscheiben zum Frühstück und erlaubten ihr jeden Morgen nur ein Glas Kaffee, und selbst diesen mit der doppelten Menge Wasser verdünnt. Amerikaner hätten flächendeckend eine Gesundheitsmacke, zählten die Kalorien, schrieben alles auf, was sie gegessen hätten, und lebten jetzt schon doppelt so lange wie normal. Durch diese Verlängerung des Lebensalters zögen sich auch alle Lebensphasen in die Länge, berichtete das Mädchen. Sie blieben sehr lange Kinder, kämen mit dreißig erst in die Pubertät, gingen bis fünfzig oder sechzig studieren und mit siebzig überlegten sie sich vielleicht, eine Familie zu gründen. Sie hätte sich die ganze Zeit dort wie in einem Senioren-Kindergarten gefühlt. Aber London wäre bestimmt eine Reise wert gewesen, sie wäre gern dorthin gefahren, meinte die Schülerin selbstbewusst. Nicht dass Nicole nach dieser Weltpräsentation enttäuscht gewesen oder von ihren Plänen zur Welteroberung abgerückt wäre, aber sie drängelte nicht mehr mit Kolumbien und fuhr sogar am Wochenende mit uns nach Glücklitz, um den Garten zu kontrollieren.
    Ein Tag in Glücklitz macht aus jedem Welteroberer einen anderen Menschen. Zuerst tauen die Sinnesorgane auf. Die Augen, das Gehör, die Nase. In der Stadt werden die Menschen schnell taub und kurzsichtig. Egal, wohin sie schauen, sie sehen nur Wände, Mauern und Bildschirme. Selten schauen sie in den Himmel, der meistens mit Dächern und Baukränen halb bedeckt ist. In Glücklitz dagegen fängt man an, die Weite zu sehen. Die Großstadtbetäubung lässt nach, die Geräusche, die die Menschen und ihre Autos produzieren, hallen noch eine Weile im Kopf nach, deswegen hört man die ersten Stunden nichts. Aber dann stellt man plötzlich fest, wie laut eine Mücke oder eine Hummel summen können. Man hört das Rauschen der Blätter und die Schreie der Vögel. Man hört, wie mein Nachbar Herr Köpke sich mit seinem Hund unterhält. Man hört sogar, wie die Fische im Glücklitzer See miteinander planschen.
    Sicher ist Glücklitz mit Kolumbien nicht zu vergleichen, schon gar nicht mit England oder Frankreich. Es gibt so gut wie keine

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