Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)
Sehenswürdigkeiten hier, keine Attraktionen, keine öffentlichen Plätze, außer einem für die freiwillige Feuerwehr. Die Einheimischen, die in den Glücklitzer Landschaften spazieren gehen, bleiben in der Regel vor nichtssagenden Objekten stehen – vor einem Baum, einem großen Stein oder einer kaputten Bank, die sie lange anstarren können. Wir haben über dieses Phänomen bereits öfter nachgedacht und sind zu dem Schluss gekommen, dass die Bewohner in diesen Objekten eine Art Spiegel sehen. Sie suchen darin sich selbst, ihre Kindheit und Jugend. In dem Stein, dem Baum und der freiwilligen Feuerwehr erblicken sie ihre Vergangenheit, vergewissern sich ihrer Gegenwart und sichern ihre Zukunft. Sie wissen noch genau, wie sie als Kinder hinter dem Stein Verstecken spielten, sie konnten sich damals wahrscheinlich zu dritt hinter den Stein ducken. Er hat sich seitdem kaum verändert, nur etwas kleiner ist er geworden. Die Blätter des Baumes rauschen bei Wind genau wie früher, und sogar das Haus der freiwilligen Feuerwehr, 1919 erbaut, mit dem obligatorischen Riesenaschenbecher vor dem Eingang und der grauen Fassade, sieht noch genauso aus wie früher, obwohl es 1975 vollständig abgebrannt ist und später originalgetreu wiederaufgebaut wurde. Tagein, tagaus kommen sie zum Stein, zum Baum, zur freiwilligen Feuerwehr, um festzustellen, dass noch alles beim Alten ist. Sie wissen vielleicht gar nicht, dass es noch andere, spannendere Orte gibt, die zu besuchen ebenfalls Spaß machen könnte. Zum Beispiel London oder Paris, ganz zu schweigen von Kolumbien, dem einzigen Land der Welt, in dem es verboten ist, mit Helm Motorrad zu fahren. Oder das Traumland Costa Rica mit seinen unglaublich fetten gelben Würmern.
Obwohl, Hand aufs Herz, was Würmer, Libellen, Mücken und überhaupt groß gewachsene Insekten betrifft, kann Costa Rica Glücklitz nicht das Wasser reichen. Niemals. Eine wissenschaftliche Erklärung dafür, warum bloß fünfzig Kilometer von Berlin entfernt das Ungeziefer an Körperbau und Aggressivität so zunimmt, dass einem selbst der einfachste Schmetterling wie eine ferngesteuerte Drohne der Luftwaffe vorkommt, habe ich nicht. Fakt ist aber, dass die Insekten in Brandenburg viel mehr Platz als die in der Stadt beanspruchen. Mehrmals ist es mir schon passiert, dass ich nicht die Kraft hatte, einen Regenwurm, den ich dringend zum Angeln gebraucht hätte, aus der Erde zu ziehen, so groß und kräftig war er.
Die Mücken Brandenburgs kreisen nicht um ihre eventuellen Opfer, wie es die intelligenten Stadtmücken tun, sie gehen gleich zur Sache und stürzen sich mit ausgefahrenem Saugrüssel direkt auf sie. Ich vermute sogar, dass sie mit geschlossenen Augen fliegen. Weil es so wenig warmes Blut hier gibt, sind Glücklitzer Mücken Fatalisten geworden. Leben und Sterben ist für sie reine Glückssache. Sie machen die Augen zu und fliegen los, ihrem Schicksal entgegen. Treffen sie auf einen Baum, haben sie Pech gehabt. Treffen sie auf mich, können sie sich satt saugen und mit neuer Kraft dem bitteren Schicksal trotzen. Sie brauchen breite Flügel und Ausdauer, weil hier nicht viele Menschen leben, aber auch nicht wirklich viele Bäume auf den Glücklitzer Grundstücken stehen.
Auf der Wiese vor unserem Haus zum Beispiel wuchs überhaupt kein einziger Baum. Das sollte sich mit unserem Einzug ändern. Gleich im ersten Frühling fingen wir an, auf unserem neuen Grundstück spontan zu vegetieren – jeder in seine Richtung. Das heißt jedes Familienmitglied wählte sich Pflanzen oder Bäume nach eigenem Belieben aus, ohne sich nach irgendwelchen Gartenordnungsvorschriften zu richten. Meine Frau legte an allen Seiten und Ecken des Grundstücks Blumenbeete an mit Narzissen, Rosen, Krokussen und einer aus dem Kaukasus eingewanderten, dunkelroten, hierzulande noch nicht verbreiteten Pflanze namens Sorjka, zu Deutsch »Morgendämmerung«. Selbst das furchtlose, brandenburgische Ungeziefer, hellbraune Hummeln und schwarze Käfer mit roten Pünktchen, schreckte zunächst davor zurück und machte um diese Morgendämmerung einen großen Bogen.
Meine Tochter legte eine Tulpenplantage an, mein Sohn dagegen entdeckte vor Kurzem eine bewunderungswürdige Pflanze: den Meerrettich. Er leuchtete geradezu vor Begeisterung und Respekt. Aus der ganzen Vielfalt der Natur, den unzähligen Blumen und Pflanzen, Farben, Formen und Düften, hielt Sebastian den Meerrettich für die absolute Krönung der floralen Schöpfung. Dagegen ist
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