Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)
ich um das ganze Dorf herum. Beinahe verlief ich mich in diesem kleinen Kaff, wegen der Besonderheiten der Glücklitzer Architektur. Während die meisten Städte und Dörfer ihre Straßen wie in einem Kreuzworträtsel bauen, mit Kreuzungen und Ecken, sodass man, egal wie betrunken, immer nach Hause findet, wenn man sich an eine Wand hält, sind die Glücklitzer Straßen kreisförmig angelegt. Alle drei Straßen gehen in einer Art Spirale ineinander über. Sie bilden eine Art Grenze, die den Ort von dem Wald und dem Wasser abgrenzt, sie umkreisen das Zentrum des Dorfes, einen zentralen Platz, wo nichts ist. Ein leeres Feld.
Die Glücklitzer können sehr gut mit diesem Nichts umgehen. Während die Menschen in den Großstädten Angst vor Nichts haben und stets versuchen, jedes leere Feld mit Inhalten vollzustopfen, mit Wohnhäusern, Denkmälern oder Geschäften, oder wenigstens ein paar Stühle hinzustellen, um das Loch in der Weltschöpfung zu stopfen, begreifen die Glücklitzer das Nichts als Luxus, als einen natürlichen Zustand, ein Ding für sich. Sie schöpfen daraus kreative Kraft und Energie. In anderen deutschen Dörfern versuchen die Einwohner das Nichts einzuordnen. Sie grenzen es erst einmal ein und stellen Verbotsschilder auf, auf denen steht, was man im Nichts alles nicht tun darf. Und schon hat man statt eines metaphysischen Flecks eine stinknormale deutsche Wiese. In Glücklitz standen dort den Sommer über manchmal Pferde, die ich ebenfalls gefüttert habe. Manchmal weideten auch Schafe auf dem leeren Feld. Am Tag des vermeintlichen Weltuntergangs stand nur ein Esel im Nichts, an einen Pfahl gebunden. Wahrscheinlich fror er, oder er ahnte Schlimmes. Auf jeden Fall lief er im Kreis herum, und ich lief um den Esel herum, die Erde lief um die Sonne, und die Sonne um irgendetwas anderes. Es schien unmöglich, diesen Kreislauf zu unterbrechen.
Wie spät mag es sein?, fragte ich in die Leere. Seit dem Kindergarten trage ich keine Uhr mehr. Der Himmel war inzwischen dunkel geworden, der Wind hatte sich verstärkt, nach meinem Zeitgefühl zu urteilen hatten wir den Weltuntergang um 15.00 Uhr schon überstanden und den um 19.30 Uhr ebenfalls. Es sei denn, er wurde wieder von den Russen verschoben. Die hatten schon immer Probleme mit der Zeitrechnung gehabt. Diese Probleme habe ich ebenfalls. Als ich auf die Welt kam, war die russische Revolution gerade fünfzig Jahre alt geworden. Mit dem Alter hatte sie viele ihrer Versprechen eingebüßt. Freiheit schloss die Gleichheit aus, und die Brüderlichkeit wurde von Schadenfreude zersetzt. Doch wir dachten damals, eine neue Zeit würde kommen und die alten Werte wieder mit Leben füllen. Wir wussten nur nicht, wann genau das sein würde. Alle schauten neugierig auf die Uhr. Die größte hing am Kremlturm, und jeder Bürger hatte eine eigene am Armband. Besonders Pünktliche trugen sogar mehrere Uhren.
Ich hatte bereits als Fünfjähriger eine Uhr von meinem Onkel geschenkt bekommen. Er arbeitete damals in einer berühmten Moskauer Fabrik, die Uhren produzierte. In seiner Wohnung tickte es überall – in der Küche, im Bad, sogar auf der Toilette. Er händigte mir also zum fünften Geburtstag eine Armbanduhr aus und erklärte, wie sie funktionierte.
»Schau genau hin«, sagte der Onkel. »Ein kurzer Pfeil zeigt auf sieben, der andere, längere auf zehn, das heißt es ist sieben Uhr zehn.«
Am nächsten Tag ging ich in den Kindergarten und zeigte allen stolz meine Uhr.
»Und? Wie spät ist jetzt?«, fragten mich die Kindergartengenossen. Die Pfeile hatten ihre Position inzwischen verändert. Der eine zeigte nicht mehr auf sieben, der andere nicht mehr auf zehn.
»Das ist noch nicht ganz raus, aber wir haben noch Zeit«, sagte ich nachdenklich.
Seitdem schaue ich nur noch selten auf eine Uhr. Ich weiß, es ist nie ganz raus, und die Zeit, die wir haben, können wir sowieso nicht behalten. Wir können nicht sagen, ach, es war eine so schöne Zeit, darf ich mir davon noch ein wenig einpacken? Oder umgekehrt: Diese Zeit ist schlecht, kann ich etwas vorspulen? Selbst wenn man hundert Uhren mitschleppt, wird man die Zeit weder mitnehmen noch ihr ausweichen können. Sie entzieht sich unserer Kontrolle.
In der modernen Schule, so hat es mir mein Sohn erzählt, darf man neuerdings bei der Schulleitung mehr Zeit zum Nachdenken beantragen – schriftlich. Das heißt, wenn alle Schüler ihre Schreibarbeiten nach einer halben Stunde abgegeben haben, hat der Antragsteller
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