Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen (German Edition)
verschiedensten Formen von Nervenzelluntergang, dass man den Prozess des Absterbens subjektiv in aller Regel zunächst gar nicht bemerkt. Die Funktion von neuronalen (d.h. aus Nervenzellen bestehenden) Netzwerken lässt sich digital simulieren. Solche Simulationen zeigen objektiv, dass neuronale Netzwerke beim Absterben einzelner Neuronen sich ganz anders verhalten als beispielsweise Computer beim Ausfall einzelner Bauteile. Wenn der Computer nicht mehr funktioniert, sprechen wir davon, dass er abstürzt. Mit anderen Worten, er geht nicht langsam kaputt wie beispielsweise Ihre Wohnzimmercouch (niemand sagt »meine Couch ist gerade abgestürzt«), sondern er stellt von einer Sekunde auf die andere die Funktion ein. Bei digital simulierten neuronalen Netzwerken ist das anders. Sie funktionieren meistens selbst dann noch völlig unauffällig, wenn bereits 70 Prozent der Nervenzellen ausgefallen sind. Ab dem Punkt nimmt dann die Funktion merklich ab, ist aber bei 85 Prozent defekter Nervenzellen noch immer einigermaßen vorhanden. Erst wenn mehr als 90 Prozent der Nervenzellen zerstört sind, funktioniert das Netzwerk nur noch ein bisschen und irgendwann gar nicht mehr.
Nicht anders ist das auch bei realen Neuronen im Gehirn. Wir wissen heute, dass bei Gehirnerkrankungen, bei denen Nervenzellen zugrunde gehen, schon längst deutliche Schädigungen vorliegen, wenn sich die ersten Symptome zeigen. Beim Morbus Parkinson, einer Erkrankung bestimmter Nervenzellen, die für die Kontrolle von Körperbewegungen zuständig sind, zeigen sich die ersten Symptome wie Zittern, Bewegungsstarre und Muskelsteifigkeit in der Regel erst dann, wenn bereits weitaus mehr als die Hälfte der für die Krankheit spezifischen Nervenzellen abgestorben sind.
Bereits im vorangehenden Kapitel hatten wir gesehen, dass bei der Alzheimer’schen Krankheit – der häufigsten Ursache einer Demenz – zunächst nur ein kleiner Teil des Gehirns betroffen ist und erst später die Erkrankung auf das gesamte Gehirn übergreift. Man kann sich daher gut vorstellen (und hat auch entsprechende Hinweise darauf), dass der Nervenzellenuntergang sehr viel früher beginnt als die subjektiv bemerkbaren und objektiv nachweisbaren Symptome der Krankheit. Man spricht auch von der kognitiven Reservekapazität, die ein Mensch hat und auf die er zurückgreifen kann, wenn seine Verarbeitungsressourcen knapp werden. Je höher diese Reservekapazität ist, desto später wird ein geistiger Abstieg bemerkt. Sie hängt entscheidend davon ab, wie gut das Gehirn vor dem Abstieg gebildet wurde.
2.10 Geistiger Abstieg und Symptomatik von Demenz
Dieses Bild bedarf insofern der Ergänzung, als in unserem Gehirn nicht alles überall verarbeitet wird, sondern bestimmte Bereiche auf bestimmte Funktionen spezialisiert sind. Wie bereits erwähnt, hat der Hippocampus eine Schlüsselfunktion bei der Bildung neuer Gedächtnisinhalte, und er ist von der Alzheimer’schen Krankheit sehr früh betroffen. Nimmt seine Funktion ab, werden neue Inhalte nicht mehr so gut eingespeichert. Jeder kennt die Beobachtung, dass ein älterer Mensch noch genau weiß, was es bei seiner Hochzeitsfeier zum Essen gab, sich jedoch nicht mehr erinnern kann, was er gestern zu Mittag gegessen hat. Dies ist eine typische Erscheinung einer beginnenden Demenz; das Gedächtnis für zeitlich weiter zurückliegende Sachverhalte ist noch erhalten, neue Fakten und Ereignisse hingegen können nicht mehr so gut eingespeichert werden. Eine weitere Besonderheit des Hippocampus besteht darin, das in ihm, anders als in fast allen Gehirnregionen, zeitlebens Nervenzellen nachwachsen.
Neue Zellen in alten Gehirnen
Über lange Zeit galt in der Neurowissenschaft das Dogma, dass die menschlichen Nervenzellen bereits bei der Geburt voll ausgebildet sind. Danach, so die feste Meinung, würden keine neuen Nervenzellen mehr gebildet, aber täglich sterben welche ab. Mich selbst hat das so sehr beunruhigt, dass ich schon vor Jahren einmal der im Volksmund weitverbreiteten Auffassung nachgegangen bin, täglich würden etwa 10 000 Nervenzellen absterben. [42] In wissenschaftlichen Untersuchungen findet sich hierzu zwar keinerlei Begründung, aber beunruhigend war der Sachverhalt allemal. Geht man von 100 Milliarden Nervenzellen aus sowie von 10 000 absterbenden Nervenzellen täglich, zeigt eine einfache Rechnung, dass man unter diesen Annahmen mit 70 Jahren 1,3 Prozent seiner Nervenzellen verloren hätte. Da war ich dann doch
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