Dirigent
erwachsene Tochter hat.«
»Ich bin erst neun«, sagte Sonja. »Neun Jahre und –« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, »dreiunddreißig Minuten.«
»Ein perfektes Alter«, sagte Herr Schostakowitsch. »Weder zu alt noch zu jung.« Er nahm einen großen Schluck Preiselbeersaft. »Glaubst du, dein Vater hat vielleicht ein bisschen Wodka da?«
»Ganz sicher. Er hat erst neulich mit Herrn Sollertinski welchen getrunken.«
»Aha. Wenn Herr Sollertinski neulich Abend hier war, dann könnte es allerdings sein, dass kein Wodka mehr übrig ist. Es heißt, er sei in der Lage, die Newa leer zu trinken.«
»Dmitri!« Frau Schostakowitsch hob alarmiert die Augenbrauen.
»Ein kleiner Scherz«, sagte Herr Schostakowitsch hastig. »Weiter nichts.« Er wandte sich wieder Sonja zu. »Vielleicht spielst du uns nachher etwas auf deinem Geburtstagsgeschenk?«
Sonja errötete. »Sehr gern.«
»Es wäre uns eine große Ehre«, sagte Herr Schostakowitsch.
Während der Nachmittag sich davonstahl, füllte sich das Zimmer mit einem seltsamen orangefarbenen Licht. Sonja, die mit Tellern voller Speisen zwischen ihren Gästen umherging, fühlte sich, als schwimme sie in einem verzauberten Teich. Oder tauche in eine der wunderschönen Perlen an Frau Schostakowitschs sahnigem Hals ein, in denen sich die tief stehende Sonne spiegelte.
Maxim saß klein und ernst auf einem Kissen in der Sofaecke. Den Mantel hatte er inzwischen ausgezogen, gab aber, mit einer Hand auf dem Ärmel, gut darauf Acht. Sonja versorgteihn mit Limonade und den Süßigkeiten, die sie unter dem Kissen hervorholte und in Sicherheit brachte, nachdem Tante Tanja eine Zeitlang darauf gesessen hatte.
»Wie kann sie denn nicht merken, dass sie auf einer großen Messingschüssel sitzt?«, flüsterte Galina.
»Weil sie so einen großen Messinghintern hat«, sagte Konstantin.
Sonja musste ein bisschen lachen, und Konstantin grinste und sah unter seinem Partyhütchen verschmitzt und gut aus. Aber Sonja wusste trotzdem, dass sie nie jemanden heiraten würde, der so schlechte Witze machte.
Weitere Gäste erschienen, meistens Leute, die mit ihrem Vater im Konservatorium arbeiteten. Der Geräuschpegel stieg. Jemand fing an, Klavier zu spielen, und obwohl Herr Sollertinski erst kürzlich zu Besuch gewesen war, kam mehr als genug Wodka auf den Tisch. Irgendwann gähnte das erste Gessen-Kind, dann das zweite, woraufhin Frau Schostakowitsch auf die Kaminuhr blickte und sagte, sie müsse jetzt die Kinder ins Bett bringen.
»Alles zu seiner Zeit, meine Liebe.« Herr Schostakowitsch trat, mit etwas schief sitzendem Schlips, auf Sonja zu. »Darf ich jetzt das Storioni sehen?«, fragte er respektvoll.
Das Cello lag im halbdunklen Schlafzimmer auf der Seite. Sonjas Herz tat einen Sprung, als sie es sah: Es war so schön! Behutsam richtete sie es auf und hielt es Herrn Schostakowitsch hin, der mit den Händen bewundernd über die rotbraune Vorderseite und den geschwungenen Rücken strich.
»Ein sehr schönes Instrument«, sagte er. »Ich habe deine Mutter oft darauf spielen sehen, bevor du geboren wurdest.«
»Ja?« Sonja konnte sich kaum vorstellen, wie die Welt damals gewesen war. »Wo hat sie denn gespielt?«
»In der Philharmonie«, sagte Herr Schostakowitsch und hielt das Cello in den Armen, als wiege es nicht mehr als ein Baby. »Wunderschön. Ganz wunderschön.« Es warnicht klar, ob er das Cello, Sonjas Mutter oder den Konzertsaal mit den hohen weißen Säulen meinte.
»Ich habe noch nicht viel darauf gespielt. Nur heute Morgen ein bisschen, bevor ich mit den Vorbereitungen für meine Party angefangen habe.«
»Mag es dich?« Herr Schostakowitsch sah sie eindringlich an.
»Wie bitte?«
»Zeigt es Sympathie für dich? Ob es dich kennt, spielt keine Rolle – es wird dich ja noch kennenlernen. Aber es ist sehr wichtig, dass es dich mag , und umgekehrt.« Die Locke über Herrn Schostakowitschs Stirn löste sich plötzlich aus ihrem Wachsüberzug und hüpfte vor seinem Gesicht hoch und nieder. »Ich habe vor langer Zeit im Swetlaja lenta Stummfilme begleitet, und weißt du was? Das Klavier hat mich gehasst! Wir haben uns jeden Tag gestritten, jeden Abend miteinander gerungen.« Er seufzte. »Es war eine grässliche Arbeit. Gegen das Klavier zu kämpfen war, wie Tag für Tag mit einem Menschen zusammenzuarbeiten, den man verabscheut.«
Sonja betrachtete das glänzende Cello. »Als ich es heute Morgen aus dem Kasten genommen habe, habe ich als Erstes die A-Saite
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