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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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Schulter. »Aber sie spielt brillant, da haben Sie schon recht.«
    »Das war eine der nettesten Feiern, auf denen ich je gewesen bin«, sagte Frau Schostakowitsch. »Wenn man sich gut amüsieren will, sollte man immer auf die Geburtstagsfeiern von Neunjährigen gehen – und nie zu offiziellen Anlässen.«
    Viel später, als sie schon im Bett lag, beobachtete Sonja ihren Vater, der, ein höchst ungewohntes Bild, aufräumte. »Ist Herr Schostakowitsch berühmt?«
    »O ja.« Ihr Vater bückte sich, um Bücher ins Regal zu schieben. »Sehr berühmt.«
    »Die Bücher gehören aufs oberste Bord«, sagte Sonja. »Und du?«
    »Ob ich berühmt bin?« Ihr Vater sah sich zu ihr um. »Nein, nicht wirklich. Und darüber sollten wir froh sein.«
    »Warum? Ist es schwer, mit einem berühmten Menschen verwandt zu sein? Galina sagt, ihr Vater ist oft nicht bei der Sache. Manchmal sitzt er ganz lange am Klavier, und dann steht er plötzlich auf und knallt mit der Tür oder brüllt. Danach fährt Galinas Mutter mit ihr und Maxim immer zu ihren Großeltern, für eine sogenannte Auszeit.«
    Aus irgendeinem Grund lachte ihr Vater darüber. »Ja, das ist ein Grund, Ruhm zu vermeiden. Und es gibt noch etliche andere. Für Menschen mit hohem Bekanntheitsgrad ist das Leben nicht so einfach.« Er hielt inne und räusperte sich. »Versuch jetzt zu schlafen. Konzerte sind ziemlich anstrengend, wenn meine Erinnerung an meine aktive Zeit mich nicht trügt.«
    »Könntest du mein Cello da drüben hinstellen?«, fragte Sonja. »Ich möchte es vom Bett aus sehen.«
    Ihr Vater lehnte es an die Wand, wo es ebenso müde wie elegant wirkte. »Ist das alles, Eure Exzellenz? Darf ich jetzt Tante Tanja beim Abwasch helfen?«
    Nachdem er die Tür zugemacht hatte, wartete Sonja aufden Schlaf. Sie schloss die Augen, doch sie gingen immer wieder auf, als wäre Sonjas Glück zu groß, um es einzusperren. Und so lag sie da und betrachtete die hölzerne Schnecke ihres Cellos, in der sich der blassblaue Himmel spiegelte. Und sie wünschte, die Welt könnte stehen bleiben, denn in diesem Augenblick war alles vollkommen.
Nikolais Trauer
    Eine Zeitlang hatte Nikolai geglaubt, vor Trauer wahnsinnig zu werden. Wenn er eine Straße überquerte, schaute er weder nach links noch nach rechts; er trat einfach mitten in den hupenden, wimmelnden Verkehr und ergab sich dem Schicksal. Wenn er von einem Auto erfasst würde, sei’s drum.
    Seit jener furchtbaren Nacht im Januar konnte er ohnehin nicht mehr richtig sehen. Anstelle der erwarteten Finsternis war im Zentrum seines Blickfelds ein grelles Licht aufgetaucht. Er sah alles nur aus den Augenwinkeln und drehte dabei kaum den Kopf, als wollte er nicht hinschauen. Und so stellte die Welt sich ihm in Scheibchen dar: verzerrte Bäume, gebogene Laternenpfähle, schmale Häuserecken.
    Er lief durch diese Wochen wie ein Blinder, der die Straßen durch seine Fußsohlen spürt. Seine Stiefel wetzten sich ab und irgendwann durch. »Warum kaufst du dir keine neuen?« Tanjas Ton lag irgendwo zwischen Sorge und Strenge. »Du siehst ja aus wie einer der Männer unten am Finnlandbahnhof.« Damit sie ihn in Ruhe ließ, gab Nikolai vor, auf etwas anderes zu sparen, von dem er noch nicht sprechen könne. In Wahrheit war das Laufen jetzt, da seine Stiefel ihm zur zweiten Haut geworden waren, leichter für ihn geworden: So wie ein Bergsteiger sich am Seil eine kalte, windige Gletscherspalte entlanghangelt, tastete Nikolai sich mit den Füßen voran. Nur dass er beijedem unebenen Pflasterstein, jeder Bordsteinkante fürchtete, zu stolpern und Hunderte von Metern tief in eine blaue eisige Stille zu stürzen.
    »Bist du fertig?« Sonja stand vor ihm, das Haar mit einer roten Schleife zusammengebunden, die Jacke zugeknöpft, die Füße in der ersten Ballettposition – Fersen aneinander, Zehen nach außen gedreht.
    »Wie deine Schuhe glänzen! Sie funkeln ja richtig!« Mit zwispältigen Gefühlen kehrte Nikolai aus der Vergangenheit zurück: Freude beim Anblick von Sonja, darunter schmerzliches Bedauern. Das Fortschreiten der Zeit war nicht in jeder Hinsicht ein Segen. Er schloss die Augen und versuchte, das blasse, ovale Gesicht wiederzufinden, doch es war fort. Es gab inzwischen Tage, an denen er sich nicht mehr an die Farbe ihrer Haare erinnerte und die Welt jenseits des Fensters verzweifelt nach dem exakten Farbton absuchte, um sie zu sich zurückzuholen. An anderen Tagen wurde ihm bewusst, dass er sich den Schwung ihres Halses oder die Form

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