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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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ihrer Füße nie genau genug angeschaut hatte, sodass auch sie seinem Gedächtnis allmählich entglitten.
    Sonja betrachtete ihre Schuhe. »Ich hab drauf gespuckt«, gab sie zu, »weil ich die Schuhcreme nicht finden konnte. Ich weiß nicht, wo Tante Tanja sie hingeräumt hat.«
    »Ja, Tante Tanja ist eine über die Maßen ordentliche Frau«, sagte Nikolai. »Manchmal glaube ich, sie würde gern noch das Gras und die Bäume wegräumen und vermutlich auch die Newa. Die Natur ist Tante Tanja ein bisschen zu widerspenstig.«
    Sonja warf einen Blick auf Nikolais Schreibtisch. Alle Schubladen quollen über, die Partituren türmten sich auf wie wacklige Pfannkuchenstapel. »Es gibt wohl für jeden Typ einen Platz auf der Welt«, sagte sie diplomatisch.
    »Du würdest eine hervorragende Politikerin abgeben«, sagte Nikolai. »Vielleicht sollten wir dich nach Amerika schicken – da wärest du in null Komma nichts Präsidentin.«
    »Nein!« Sonja lief zu ihm. »Ich will nicht von dir getrennt sein. Ich gehöre nach Leningrad. Ich gehöre hierher.«
    Sie schlang Nikolai die Arme um den Hals, und die vertraute Panik stieg in ihm auf, so stark wie eh und je.
    »Schick mich nicht fort!« Sonja atmete schnell, und auf ihrer Stirn bildete sich ein Schweißfilm.
    »Ich hab doch nur Spaß gemacht, Maus«, sagte Nikolai schnell. »Solange dieser elende Krieg sich weiter ausbreitet, ist es nicht ratsam, irgendwo anders hinzugehen.«
    Das beruhigte Sonja. Bei der bloßen Andeutung, sich von ihm trennen zu müssen, hatte sie das Gefühl gehabt, ihr zerspringe das Herz und die Bruchstücke hämmerten von innen gegen ihre Handgelenke und Schläfen. Nun normalisierte sich ihr Puls fast augenblicklich. »Der Krieg«, sagte sie mit unverkennbarer Erleichterung. »Solange Krieg ist, bleiben wir alle, wo wir sind. Niemand geht fort – weder du noch Tante Tanja noch die Gessen-Kinder noch Maxim Schostakowitsch. Stimmt’s?«
    »Ja.« Nikolai schüttelte sich die Pantoffeln von den Füßen. »Ich kämme mich noch schnell, und dann amüsieren wir uns mal ein bisschen!«
    Im Bad stützte er sich auf den Waschtisch und atmete tief ein und aus. »Acht Jahre und fünf Monate«, sagte er, während er in das rissige Becken blickte. »Acht Jahre, fünf Monate und drei Tage.« Sein Flüstern glitt in das schleimige Gespinst aus Haaren und Seife im Abfluss und verschwand. Als er in den Spiegel schaute, waren seine Augen feucht, und er trocknete sie mit einem gräulichen Handtuch ab.
    Schostakowitsch war der Einzige, dem Nikolai die beschämende Wahrheit hatte anvertrauen können, was wohl auch an der Art und Weise lag, wie der Komponist den Proben beiwohnte: unerbittlich, ungerührt, scheinbar emotionslos. Selbst wenn seine Musik verhunzt und verstümmelt wurde, verriet sein Gesicht keinerlei Gefühlsregung.Da saß er dann, zwanzig oder dreißig Minuten lang, während Mrawinski mit den Philharmonikern rang: anfing, wieder aufhörte, den Fagottisten ermahnte, mit den Flötisten schimpfte. Still und starr wie eine Wachsfigur blieb er in der vierten oder fünften Reihe sitzen, so als hätte der Sturzbach, der sich aus den weit geöffneten Blechmäulern, von den Bögen und Handgelenken ergoss, nichts mit ihm zu tun.
    Gelegentlich, an Tagen, wenn seine Lieblingsfußballmannschaft ein Spiel verloren oder er nicht geschlafen hatte, brach er sein gewohntes Schweigen. »Das Solo muss pianissimo gespielt werden!«, rief er dann. »Pianissimo, habe ich gesagt!« Der Kontrast zwischen der Lautstärke, in der er sein Anliegen vorbrachte, und dem Anliegen selbst hätte zu dem einen oder anderen Scherz Anlass geben können, wäre die Paarung Mrawinski-Schostakowitsch nicht so respekteinflößend gewesen und die Akustik im Großen Saal der Philharmonie nicht so hervorragend, dass der Furz eines Perkussionisten angeblich noch von einem Achtzigjährigen in den hintersten Reihen gehört werden konnte.
    »Das steht nicht in der Partitur.« Mrawinski, der sein Orchester verteidigen wollte, blickte Schostakowitsch standhaft an. »Sehen Sie? Da ist keine Dynamik verzeichnet.« Je größer Schostakowitschs Zorn, umso ruhiger blieb Mrawinksi. Er galt allgemein als der einzige Mensch auf der Welt, mit Ausnahme von Schostakowitschs Frau, der keine Angst vor den heftigen, kurzlebigen Launen des Komponisten hatte.
    Schostakowitsch schritt dann zum Podium und kritzelte etwas in die Partitur. »Das muss ein Versehen sein. Um der Musik gerecht zu werden, müsste ich pppppp schreiben.

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