Dirty Old Town: Ein Wyatt-Roman (German Edition)
als hätte jemand jeden Laut eingefangen. Minuten vergingen, im Schlafzimmer hinter ihr hustete und gähnte das chinesische Mädchen.
Lydia flüchtete. Khandi war die Treppe hinuntergegangen, folglich entschied sich Lydia für den Fahrstuhl. Im Erdgeschoss streckte sie den Kopf heraus und wäre nicht überrascht gewesen, zwei Leichen vorzufinden. Sie fühlte sich eingeengt, das ganze Gebäude kam ihr vor wie eine Falle. Sie musste raus aus der Deckung, sie hatte keine andere Wahl.
Bevor sie hinaus ins Sonnenlicht trat, blieb sie kurz an der Eingangstür stehen und schlang sich das gestohlene Tuch um den Kopf. Die Leute würden nur das Tuch bemerken, aber nicht ihren armen, angeschossenen Schädel mit dem Verband. Sie hatte keine Ahnung, wohin ihr Weg sie jetzt führte oder führen sollte. Abgesehen davon, dass sie nicht weit käme mit dem pinkfarbenen Mobiltelefon der Chinesin und drei Dollar fünfundsiebzig in der Tasche.
Moment mal, wenn die SIM-Karte aus dem ramponierten Telefon in diesem pinkfarbenen hier funktionieren würde, könnte man Wyatt anrufen. Den Kopf gesenkt, ging Lydia den Innenhof entlang, anschließend weiter über den Gehweg unter Wyatts Fenster und hielt Ausschau nach den Überresten des Telefons. Auf dem Weg und der angrenzenden Grasfläche entdeckte sie Flaschen, Verpackungen, Plastiksplitter und kleine Teile verlöteter Elektronik. Aber keine SIM-Karte.
Inzwischen war es Nachmittag. Lydia sah zu, dass sie schnell wegkam von Southbank. Sie hielt den Kopf noch immer gesenkt, wollte keinen Blickkontakt mit jemandem riskieren. Man hätte ihre Angst gesehen, hätte helfen wollen oder sich eingemischt oder zumindest später erinnert. Sie musste sich jetzt quasi in Nichts auflösen. Eddie war tot, Lowe vermutlich auch und obwohl es sich in dem Winkel ihres Wesens, wo sich dergleichen bemerkbar machte, nicht so anfühlte, als wäre Wyatt tot — er war nun mal eine nicht zu bremsende Kraft, wenn es darum ging, die eigenen Dinge anzupacken —, wusste sie es nicht mit Sicherheit. Diese Erkenntnis setzte ihr ein wenig zu. Tränen traten ihr in die Augen, sie schluckte und geriet ins Taumeln. Sie war auf sich allein gestellt. Mittellos. Konnte nicht nach Hause zurück.
Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich. Sie fuhr sich über die Augen, setzte ihren Weg fort und ging in sich. Erst Geld auftreiben, dann Freunde. Und einen Unterschlupf finden. Fang mit dem an, was du hast, selbst wenn es sich nur um eine Handvoll Münzen handelt, um die Kleidung, die du am Leib trägst, und ein gestohlenes Mobiltelefon.
Als ihr Eddies Bekanntschaften einfielen — die mit den verschwörerischen Blicken und Gesten, ausgetauscht unter Männern, in Pubs, die quer über die gesamte Stadt verteilt waren und wo man keine Fragen stellte —, schlug Lydia eine andere Richtung ein, wandte sich nach Nordosten, ging durch die St. Kilda Road und weiter durch den Park zur Swan Street Bridge. Über die Swan Street, die untergehende Sonne im Rücken, gelangte sie nach Richmond. Nach einigem Umherirren kam sie in eine elende Ecke der ölig schimmernden Schlaglöcher, der Genossenschaftsbauten und heruntergekommenen Arbeiterhäuschen und fand die Art Pub, wo eine vom Pech verfolgte Frau abtauchen konnte.
Sie bestellte eine Cola mit Eis, ging im Pub umher und blieb vor einem zum Ersticken engen Nebenraum stehen, wo der Zigarettenrauch und die Hoffnungslosigkeit von Jahrzehnten die Wände getüncht hatten. Der einzige Gast war ein unrasierter Typ mit einem unzeitgemäßen Pferdeschwanz und jeder Menge Goldklunkern. Sie beobachtete ihn eine Zeit lang und wusste dann, das war ein Typ, der seinen Lebensunterhalt verdiente, indem er an einem Kneipentisch saß und darauf wartete, dass Leute zu ihm kamen. Und genau das tat sie, setzte sich ihm gegenüber an den schmuddeligen Tisch und murmelte: »Ich hätte da ’n Mobiltelefon.«
Er musterte sie und sagte: »Lass sehen.«
Sie holte es aus der Tasche und schob es über den Tisch. Im Nu verschwand seine Hand mit dem pinkfarbenen Telefon unter dem Tisch und Lydia vernahm die Piepser, als der Typ die Funktionen durchging. »Du hast da ’nen Verband überm Ohr«, verkündete er, als wäre ihr das selbst noch nicht aufgefallen.
Lydia zog das Tuch fester. »Wurde angeschossen«, sagte sie, innerlich belustigt.
Er schnaubte verächtlich. »Zehn Mäuse.«
»Zwanzig.«
»Zehn.«
Sie streckte die Hand aus. Der Typ befeuchtete sich die Finger und schälte einen Zehner von einer dicken, etwas
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