DJ Westradio
noch die Connewitz-Randale mitmachen können.«
Früher lebten wir in einer Nische. Hier in unserer Südvorstadt. Auf einer kleinen geheimen Insel in Leipzig. Dort hatte die DDR für uns nie wirklich existiert. Dort gab es nur unsere eigene Welt, die wir uns erschaffen hatten – in unseren Zimmern und unseren Köpfen.
Manchmal fahre ich mit dem Rad in mein altes Wohngebiet. Ich schaue mir unseren Steinplatz an, sehe auch das Gebüsch, in das wir immer reingepinkelt haben. Dann fällt mir wieder ein, wie die Großen vom Steinplatz immer so stolz auf ihre neuen MZ-Motorräder gewesen sind, die dort blankgeputzt nebeneinander geparkt waren. Heute stehen dort nur Westautos. Mensch, da hätten wir was zu gucken gehabt. Nein, ich bin nicht traurig, daß diese Zeit vorbei ist. Ich bin wahnsinnig froh, daß ich diese Zeit erlebt habe.
Ich fahre an den Häusern meiner alten Mitschüler vorbei. Von denen wohnt hier keiner mehr. Aber in vielen Häusern kenne ich neue Leute, die vor einigen Jahren hierhergezogen sind. Wer in Ostdeutschland aus der Provinz nicht nach Berlin zieht, der zieht nach Leipzig. Auch viele junge Menschen aus westdeutschen Städten wohnen mittlerweile hier. Wenn ich heute auf der Karl-Liebknecht-Straße unterwegs bin, treffe ich ständig Bekannte. Alte und neue Gesichter. Manche kenne ich schon seit über 15 Jahren, manche erst seitkurzer Zeit. Jedenfalls weiß ich dann immer, daß ich hier richtig bin.
Und dann gibt es da noch was: Wenn ich heutzutage irgendwo in Europa mit dem Auto im Urlaub bin und zurück nach Deutschland fahre, denke ich auch viele Jahre nach der Wiedervereinigung zunächst nur: »Jetzt bin ich in Deutschland.« Fahre ich dann über die frühere Grenze in die ehemalige DDR, kommt mir dann in den Sinn: »Jetzt bin ich zu Hause.« Und dabei kann ich viele dieser »Ningel-Ossis« überhaupt nicht leiden, und lange glaubte ich, daß ich eigentlich zu denen da drüben gehörte. Der Grund scheint simpel: Das ist wie mit seiner alten Schulklasse, wo man auch nicht alle mochte. Aber man hat eben mehr oder weniger freiwillig so viel Zeit zusammen verbracht, und das hat einen irgendwie miteinander verbunden. Auch die Zeit kann daran offenbar nichts ändern. Ist das nicht verrückt?
Doch wenn ich heute darüber nachdenke, ob ich nun in West- oder Ostdeutschland groß geworden bin, so komme ich zu dem Schluß, daß ich vor allem in den 80ern aufgewachsen bin.
Gott sei Dank, daß es vorbei ist.
Schade, daß es vorbei ist.
Schön, daß es weitergeht.
Mal sehen, was noch so kommt.
Informationen zum Buch
Die DDR war für viele Jugendliche schon Anfang der 80er Jahre Geschichte. Sie hörten nicht ihre Musik, zogen nicht ihre Klamotten an, lasen nicht ihre Zeitschriften. Was sie interessierte, kam aus dem Westen. Man konnte ihn vor allem riechen, den Westen: Persil, Irish Moos, Jacobs-Kaffee. Die Intershops waren erfüllt von diesem Geruch, und auch die Westpakete verströmten jenes wundersame und exotische Aroma, das mit der Wiedervereinigung unwiderruflich verlorenging. Mit den Gerüchen des Westens lässt Sascha Lange eine längst vergangene Zeit wiederaufleben: die Zeit seiner Jugend zwischen Ferienlager, Pop-Konzert und Montagsdemo. »DJ Westradio« ist ein Stück authentischer und berührender Zeitgeschichte: der Soundtrack einer ganzen Generation.
Informationen zum Autor
S ASCHA L ANGE , geboren 1971 in Leipzig, wuchs mit zuverlässiger Versorgung durch Westpakete und Messeonkels auf. Nach Tischlerlehre und Arbeit als Kulissenschieber studierte er Geschichte, Journalistik und Politikwissenschaft. Zur Zeit schreibt er an seiner Doktorarbeit und träumt von einer Karriere als Popstar mit seiner Band »Sunday Music Club«.
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