Doch du wirst nie vergessen: Roman (German Edition)
Natur aus so – sie brauchte es nur zu bürsten. Ihre blauen Augen hatte sie von Annie, aber für ihr Haar musste sie wohl ihrem Vater danken, denn die Haare ihrer Mutter waren hellbraun.
»Vielen Dank auch, Jimmy«, sagte sie. »Mach nur weiter den Mädchen Komplimente, dann wirst du hier ganz schnell Erfolg haben.«
»Daheim in Islington, wo ich herkomme, reden die Mädchen nicht mit einem wie mir.«
Belle war kaum jemals aus Seven Dials herausgekommen, aber sie wusste, dass in Islington angesehene Bürger der Mittelschicht lebten. Aufgrund seiner Bemerkung und der Tatsache, dass sein Onkel für die Beerdigung aufgekommen war, nahm sie an, dass Jimmys Mutter dort als Hausangestellte gearbeitet hatte.
»War deine Mutter Köchin oder Haushälterin?«, erkundigte sie sich.
»Nein, sie war Schneiderin und hat ganz gut verdient, bis sie krank wurde«, sagte er.
»Und dein Vater?«
Jimmy zuckte die Achseln. »Ist abgehauen, ungefähr zu der Zeit, als ich geboren wurde. Ma hat gesagt, dass er ein Künstler war. Onkel Garth bezeichnet ihn als Arschloch. Wie auch immer, ich kenne ihn nicht und will ihn auch gar nicht kennenlernen. Ma hat immer gesagt, was für ein Glück es sei, dass sie eine gute Schneiderin ist.«
»Sonst hätte sie vielleicht auch in Annies Laden arbeiten müssen, hm?«, erwiderte Belle verschmitzt.
Jimmy lachte. »Du bist schlagfertig, das gefällt mir«, sagte er. »Na, wie ist es? Können wir Freunde sein?«
Belle sah ihn einen Moment lang nur an. Er war ein paar Zentimeter größer als sie, hatte feine Gesichtszüge und auch eine ziemlich feine Sprache. Nicht vornehm wie bei einem echten Gentleman, aber jedenfalls war es nicht die derbe, mit Londoner Slang durchsetzte Ausdrucksweise, die sich fast alle jungen Burschen in Seven Dials aneigneten. Sie vermutete, dass er seiner Mutter sehr nahegestanden hatte und von den Alkoholexzessen, der Gewalt und den Lastern, die hier an der Tagesordnung waren, ferngehalten worden war. Er gefiel ihr, und sie konnte einen guten Freund genauso dringend brauchen wie er.
»Sehr gern«, sagte sie und streckte ihren kleinen Finger aus, genau wie Millie daheim in Annies Laden es immer tat, wenn sie mit jemandem Freundschaft schloss. »Du musst mir auch deinen kleinen Finger geben«, sagte sie mit einem Lächeln, und als sich sein kleiner Finger um ihren wand, schüttelte sie seine Hand. »Freundschaft für immer! Versprochen ist versprochen und wird nicht gebrochen«, deklamierte sie.
Jimmy reagierte mit einem leicht verklärten Grinsen, das ihr verriet, dass ihm gefiel, was sie gesagt hatte. »Gehen wir doch irgendwohin«, schlug er vor. »Gefällt dir der St. James’s Park?«
»Da bin ich noch nie gewesen«, erwiderte sie. »Aber ich sollte jetzt lieber wieder nach Hause gehen.«
Es war kurz nach neun Uhr morgens, und Belle hatte sich wie so oft heimlich hinausgestohlen, um frische Luft zu schnappen, während alle anderen im Haus noch schliefen.
Vielleicht spürte er, dass sie keine große Lust hatte, nach Hause zu gehen, und einen Spaziergang recht verlockend fand, denn er nahm ihre Hand, legte sie in seine Armbeuge und ging los. »Es istwirklich noch früh, niemand wird uns vermissen«, sagte er. »Im Park gibt es einen See und Enten, und ein bisschen frische Luft wird uns guttun. Es ist nicht weit.«
Freudige Erregung stieg in Belle auf wie kleine Luftblasen. Alles, was sie zu Hause erwartete, war Nachttöpfe zu leeren und Kohle zu schleppen, um Feuer zu machen. Es bedurfte keiner weiteren Überredung von Jimmy, um sie zum Mitgehen zu bewegen, und das Einzige, was sie bedauerte, war, dass sie nicht ihren schönen königsblauen Umhang mit der pelzgefütterten Kapuze angezogen hatte. In dem alten grauen kam sie sich furchtbar schäbig vor.
Während sie durch die schmalen Gassen Richtung Charing Cross und von dort weiter zum Trafalgar Square liefen, erzählte Jimmy ihr mehr von seiner Mutter und brachte Belle mit seinen kleinen Geschichten über die reichen Kundinnen, für die sie geschneidert hatte, zum Lachen.
»Also, diese Mrs. Colefax hat Ma echt wahnsinnig gemacht. Sie war ungeheuer fett, mit Hüften wie ein Nilpferd, aber sie behauptete ständig, Ma würde ihr zu viel für den Stoff berechnen und aus den Resten etwas für sich selbst anfertigen. Eines Tages platzte Ma der Kragen. ›Mrs. Colefax‹, sagte sie, ›ich muss schon mein ganzes Geschick aufwenden, um aus sechs Ellen Crêpe ein Kleid für Sie zu nähen. Was dabei übrig bleibt,
Weitere Kostenlose Bücher