Doch du wirst nie vergessen: Roman (German Edition)
den meisten Raum ein. Es gab noch eine kleine Garderobe für Hüte und Mäntel bei der Eingangstür, die Mog öffnete, wenn jemand klingelte. Hinter der Treppe, die zu den übrigen drei Stockwerken führte, befand sich ein L-förmiger Raum, der als Büro diente und gleichzeitig Annies Zimmer war. Hier war auch die Tür zur Hintertreppe und dem Untergeschoss. Mog hatte schon oft festgestellt, dass der Grundriss des Hauses ideal war. Belle nahm an, dass sie damit meinte, dass Belle nie sehen konnte, wer zu Besuch kam, und dass die Gentlemen nicht sahen, wie sie lebten.
Im Erdgeschoss befand sich auch eine Toilette. Sie war erst vor ein paar Jahren eingebaut worden; vorher hatten alle das Klosett draußen im Hof benutzen müssen. Belle ärgerte sich häufig, dass die Mädchen nicht immer auf die Toilette gingen, sondern stattdessen die Nachttöpfe in ihren Zimmern benutzten. Sie fand, wenn sie in einer kalten, stürmischen Nacht den Weg zum Außenklo schaffte, statt den Nachttopf zu nehmen, konnten die Mädchen wohl die paar Treppen innerhalb des Hauses hinuntergehen.
Aber Mog ergriff niemals ihre Partei, wenn Belle schimpfte, weil sie die Nachttöpfe ausleeren musste, sondern zuckte bloß mit den Achseln und meinte, vielleicht hätten die Mädchen keine Zeit gehabt. Belle fand dieses Argument absurd; wenn sie die Herren im Salon unterhielten, dauerte es schließlich viel länger, in ihre Schlafzimmer zu gehen und in den Nachttopf zu pinkeln, als die Toilette im Erdgeschoss zu benutzen.
Es war bitterkalt, als sie den Teppich über die Wäscheleine im Hinterhof hängten, und ihr Atem bildete in der eisigen Luft kleine Wölkchen. Aber als sie erst einmal anfingen, den Teppich mit den Bambusklopfern zu bearbeiten, wurde ihnen bald warm.
»Wir lassen ihn hier, bis der Boden getrocknet ist«, sagte Mog, als sie fertig und alle beide mit einer grauen Staubschicht überzogen waren.
Erst als sie wieder oben waren, sah Belle ihre Mutter zum ersten Mal an diesem Tag. Annie trug wie jeden Morgen einen Morgenmantel aus dunkelblauem Samt über ihrem Nachthemd und ein Spitzenhäubchen über ihren Lockenwicklern.
Mog und Annie waren in etwa gleichaltrig, Ende dreißig, und hatten, wie Mog es nannte, als junge Mädchen eine Allianz geschlossen, weil sie ungefähr zur selben Zeit in dieses Haus gekommen waren, das damals noch von der Gräfin geführt wurde. Belle wunderte sich manchmal, warum Mog nicht sagte, sie wären Freundinnen geworden, aber schließlich war Annie kein besonders warmherziger Mensch und wollte vielleicht keine Freundin haben.
Geschminkt und elegant gekleidet war Annie immer noch schön. Sie hatte eine schmale Taille, einen straffen, hoch angesetzten Busen und eine königliche Haltung. Aber in ihrem Morgenmantel wirkte ihr Teint fahl, ihre Lippen dünn und blutleer, ihre Augen matt. Ohne das Korsett war auch ihre kurvenreiche Figur verschwunden. Vielleicht ging sie mit den Mädchen deshalb oft so schroff und unfreundlich um, weil es an ihr nagte, dass ihr gutes Aussehen dahinschwand, während die Mädchen noch in ihrer Blütezeit waren.
»Hallo, Ma«, sagte Belle, die gerade auf den Knien kauerte und den Boden schrubbte. »Wir machen Frühjahrsputz. War auch höchste Zeit, der Salon ist völlig verdreckt.«
»Den Teppich lassen wir draußen, bis wir fertig sind«, fügte Mog hinzu.
»Du solltest den Mädchen etwas über das Saubermachen beibringen«, sagte Annie schroff zu Mog. »In ihren Zimmern sieht esaus wie auf einer Müllkippe. Sie machen gerade mal ihre Betten. Das reicht nicht.«
»Ist nicht gut fürs Geschäft«, pflichtete Mog ihr bei. »Hat keinen Sinn, den Salon auf Vordermann zu bringen und dann die Gentlemen in einen Schweinestall mitzunehmen.«
Belle, die immer noch ihre Mutter ansah, während Mog sprach, fiel auf, dass sich Annies Augen bei Mogs Bemerkung vor Schreck weiteten. Auch Mog bemerkte den Blick und wurde blass, und als Belle von einer zur anderen schaute, wurde ihr klar, dass ihre Mutter nicht wollte, dass sie wusste, was in den Zimmern der Mädchen vorging.
Belle hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass es am besten war, sich dumm zu stellen, wenn sie bei ihrer Mutter nicht in Ungnade fallen wollte. »Ich kann doch die Zimmer der Mädchen sauber machen«, bot sie an. »Ich könnte mir jeden Tag eins vornehmen und sie bitten, mir zu helfen.«
»Lass sie ruhig machen«, meinte Mog. »Sie hat gern was zu tun.«
Ein paar Sekunden stand Annie regungslos da, starrte Mog und Belle
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