Doctor Boff - Weiberkranckheiten
in einigen Tagen weiter. Ich komme aus Parma und Verona und will nach Kopenhagen.«
»Warum erwähnt Ihr nicht, dass Ihr am Königshof erwartet werdet?«
»Ihr habt nicht danach gefragt.«
»Wie könnte ich? Niemand rechnet mit so was.«
»Es ist nicht so ungewöhnlich, wie es scheinen mag.«
»Oho! Ihr tut ja so, als würdet Ihr an Königshöfen ein- und ausgehen.«
»Aber nein.«
»Das habe ich mir gedacht.«
»Es ist auch ein Kaiser dabei. Und Herrscher in Fürstentümern. In mehreren Fürstentümern.«
»Wer seid Ihr? Ein reitender Staatsmann und Samariter?«
»Ich bin Albrecht Boff. Medicus für Krankheiten der Frauen. Ich möchte jetzt essen. Ihr sucht das Gasthaus aus, ich bezahle.«
Bevor er das Rathaus betrat, sah er sich die beiden unterschiedlichen Türme an. Obwohl er schon am Eingang gestanden hatte, entfernte er sich dafür noch einmal vom Gebäude.
Als er später zum Eingang zurückkehrte, sagte der Mann, der die schwere Tür aufhielt: »Gefällt’s?«
»Halle ist größer als viele denken.«
»Auch schöner.«
»Dazu kenne ich mich nicht genug aus. Bin ich zu spät?«
»Wenn Ihr jetzt nicht ein zweites Mal das Weite suchen wollt … Ich dachte, ein Mediziner muss dicht herangehen.«
»Kein Mediziner ist nur Mediziner, er ist ja auch ein Mensch, der das Schöne liebt.«
Sie saßen zu sechst an einem Tisch, der Platz für dreißig Personen bot. Der Bürgermeister war zugegen und zeigte seine Vorliebe für dunkelrote Jacken. Bernhard Cassian mit den unentwegt beschäftigten Armen saß am Tisch, er stand dem Ausschuss im Rat der Stadt vor, der den Stadtphysicus bestellte. Außerdem Wuchtig, Doctor der Philosophie an der Friedrichs-Universität, sowie Vincent North vom vor fünfzehn Jahren eröffneten Universitätsklinikum der Franckeschen Stiftungen. Der sechste Mann schwieg von der ersten bis zur letzten Minute. Er wurde nicht vorgestellt, mit Sicherheit war er kein Sekretär, denn er machte sich keine Notizen.
Der Bürgermeister begrüßte Boff und kündigte an, vorab den Stand der Ereignisse noch einmal zusammenzufassen. Niemand zeigte erwartungsvolle Spannung. Alle kannten den Bürgermeister so gut, dass sie wussten, welcher Teil der Besprechung übersprungen werden konnte und welcher auf keinen Fall. Boff wusste, was auf ihn zukam. Derjenige in der Runde, von dem seine Informationen stammten, hatte sich zu einer gewagten Äußerung hinreißen lassen: »Verbiete dem Kerl den Mund, und er wird das Amt niederlegen. Er ist auf der Welt, um zu reden. Ständig versucht er zu ordnen und in eine Reihenfolge zu bringen. Wenn er es darauf anlegt, kann er hundertmal am Tag zusammenfassen. Es ist manchmal schwer auszuhalten mit ihm.«
Der Bürgermeister verhehlte nicht, wie sehr er sich auf die kommenden Minuten freute. Seine strahlende Miene stand in Widerspruch zum traurigen Schicksal des Stadtphysicus Tänzer. Seit zehn Tagen lag der Mann nun schon zwischen Leben und Tod, bisher hatte er das Bewusstsein nicht wiedererlangt. Es war demnach auch unmöglich gewesen, ihm Nahrung zuzuführen. Seine Frau, hingebungsvoll bemüht, saß stundenlang am Bett, um dem Gatten Wassertropfen in den Mund rinnen zu lassen. Seltsamerweise funktionierte sein Schluckreflex, aber das durfte nicht dazu führen, es mit der Fütterung zu übertreiben. Würde er sich verschlucken, würde ihm Tod durch Ersticken drohen. Er durfte nicht husten, die gebrochenen Rippen würden schmerzen, und sollte die Lunge in Mitleidenschaft gezogen worden sein, drohte Schlimmeres. Tänzer wog bei einer Körpergröße von unter eins siebzig hundertsiebzig Pfund. Er hatte also zuzusetzen, einige Zeit konnten die Fettvorräte des Körpers das fehlende Essen ersetzen. Aber das war nur vorübergehend, Tänzer musste die Augen aufschlagen, erst dann konnte man in Erfahrung bringen, ob seine Sprechfähigkeit intakt war. Erst dann war es möglich, Arme und Beine zu untersuchen. Würde Tänzer wieder der Alte werden? War das, was den Gelehrten ausmachte, noch vorhanden? Allen am Tisch war die schreckliche Möglichkeit bewusst: dass Tänzers Frau einen sabbernden und lallenden Behinderten zu versorgen hätte, bei dem an Besserung nicht zu denken war und der nur noch eine Karikatur des belesenen, klugen und lebenserfahrenen Mannes sein würde, als den ihn alle außer Boff kennen gelernt hatten.
Niemand wurde Stadtphysicus durch Zufall, in Halle vielleicht noch weniger als in anderen Städten. Hier gab es eine Universität, hier gab es ein
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